Der Colibri-Effekt
von
einem Schuss in die Schulter getroffen. Anschließend muss er sich umgedreht
haben, denn der nächste Schuss traf ihn von vorn. Durchschuss, rechte
Brustseite, durch die Lunge. Erst danach fiel er auf den Rücken – und zwar
genau hierhin.« Ruckdeschl deutete mit einer energischen Handbewegung auf das
platte Gras.
»Hier
blieb er liegen, bis ihn die Nachbarn fanden. Der Notarzt konnte ihn zwar
stabilisieren, aber er hat ziemlich viel Blut verloren. Ich fürchte, es wird
eng für ihn werden«, sagte Ruckdeschl eher fachmännisch denn mitleidig.
»Immerhin hat er seinen Kopf noch.« Ruckdeschl grinste wie ein
Honigkuchenpferd, denn ein so guter Witz war in seinem beruflichen Umfeld nicht
alltäglich.
Ein
vernichtender Blick Haderleins ließ den Chef der Spurensicherung sofort wieder
ernst werden. Er begann etwas sehr Wichtiges in seinen Unterlagen zu studieren,
während Haderlein mit seinen Überlegungen schon wieder bei der aktuellen
Problemlage angelangt war. »Hast du eine Ahnung, woher der Schütze gekommen
sein könnte?«, fragte der Hauptkommissar nachdenklich, während er den Tatort
überblickte.
Sofort
zog Ruckdeschl eine genervte Miene. »Du kannst wirklich Fragen stellen, Franz«,
seufzte er. »Aber ich hab ja gewusst, dass du mir damit kommen würdest. Folge
mir.« Er ging etwa sieben Meter am Wasser entlang, blieb dann stehen und
schaute in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. »Also, wenn ich
jetzt schätzen müsste, ich betone, grob schätzen müsste«, er schaute Haderlein
mit dem deutlichen Hinweis im Blick an, dass er nur äußerst ungenaue Angaben
machen konnte, »dann würde ich denken, dass der Schütze irgendwo hier stand.
Aber nagel mich bitte nicht darauf fest. Genauere Angaben können wir erst machen,
wenn wir hier fertig sind, und das kann noch eine Weile dauern.« Ruckdeschl
schnaufte durch. Er hatte sich die Nacht auch arbeitsärmer vorgestellt, weiß
Gott.
»Okay.«
Haderlein blickte nachdenklich zu der zerschossenen Bank hinüber. Irgendwie
ergab das doch alles keinen Sinn. Wieso sollte der Baron nach dem
gemeinschaftlichen Essen noch mit seinem Jagdgewehr durch seinen Garten
geschlichen sein? Und wieso sollte ihn dann jemand –?
»Aber das
Beste kommt ja noch«, unterbrach Ruckdeschl seine Überlegungen. »Komm mal mit,
Franz.« Er ging am »Liegeplatz« des Barons und der zerschossenen Bank vorbei
und trat ein paar Schritte vor bis an den Rand des Schilfs. Wortlos deutete er
auf den Boden. Haderlein kniete sich hin. Jemand hatte hier gestanden. Außerdem
gab es tiefe Fußspuren, die sich nach wenigen Metern im Schilf verloren.
»Hier
standen zwei Personen«, erklärte ihm Ruckdeschl. »Aber nur eine davon ist durch
das Schilf verschwunden. Der Tiefe der Fußabdrücke nach würde ich mich zu der
Vermutung hinreißen lassen, dass die eine Person die andere getragen hat.«
»Ach, und
gibt’s zufällig irgendwelche Blutspuren?«, fragte Haderlein sofort.
Ruckdeschl
schüttelte vehement den Kopf. »Du meinst also, einer der beiden konnte nicht
mehr laufen? Der Gedanke kam mir auch schon, aber die Einzigen, die hier
verletzt wurden, sind das Fichtenholz der Bank und unser Baron. Wenn bei einem
anderen der Anwesenden eine Gehbehinderung vorlag, dann bestimmt nicht durch
eine Schussverletzung. Es gibt keine Blutspuren. Wer auch immer hier
weggetragen wurde, war entweder unverletzt oder schon länger tot. Jedenfalls
hat der große Unbekannte mit seiner Fracht dort unterhalb des Biberdammes die
Baunach durchquert und ist auf der anderen Seite verschwunden. Wir haben am
anderen Ufer schon alles abgesperrt, aber können es erst genauer untersuchen,
wenn es hell ist.«
Haderlein
richtete sich auf und klopfte Ruckdeschl anerkennend auf die Schulter. »Das ist
doch schon mal eine ganze Menge. Allerdings kapiere ich jetzt noch weniger als
vorher, wenn ich ehrlich bin. Was ist hier abgelaufen? Ich war doch kurz vorher
noch mit Lagerfeld zum Essen hier. Wir haben die ganze Show also nur knapp
verpasst. Hat das alles womöglich etwas mit unserem Besuch zu tun?«
Nachdenklich legte er eine Hand ans Kinn, dann leuchteten seine Augen auf.
»Eigentlich ist das ja eine ausgezeichnete Gelegenheit, unser hochbegabtes und
teuer ausgebildetes Spürhundeschwein zum Einsatz kommen zu lassen!« Er sah sich
nach Riemenschneider um, aber das kleine Ferkel war verschwunden. Was sollte
das denn schon wieder? Das war doch gar nicht Riemenschneiders Art, so einfach
abzuhauen. Erneut suchte er
Weitere Kostenlose Bücher