Der Consul
Nationalsozialisten umzubringen.«
Rickmer blieb vor Grüntner stehen. »Und zu den Lieblingsbeschäftigungen der NSDAP gehört es, Kommunisten umzubringen. Ich sage nur Potempa. Dort haben fünf Nazis einen von der KP vor den Augen seiner Mutter totgetrampelt, und Ihr Führer hat sie zu Märtyrern der Bewegung erklärt, nachdem sie für den Mord zum Tod verurteilt wurden.« Er war scharf.
»Das hat mit unserem Fall nichts zu tun«, sagte Grüntner.
Ich blätterte weiter in dem Ordner. Leutbold hatte auch Artikel geschrieben für die Rote Fahne und andere kommunistische Zeitungen. Ich klappte den Ordner zu. »Gut, Leutbold und Schmoll haben uns belogen.«
»Die haben Sie belogen«, sagte Grüntner.
»Aber wir haben nichts gegen sie in der Hand. Kein einziges Indiz spricht dafür, dass sie die Täter sind.«
Grüntner kratzte sich hinterm Ohr. »Wenn zwei Kommunisten sich unter falschem Vorwand Arbeitsstellen besorgen in einem Hotel, in dem immer wieder bedeutende politische Persönlichkeiten nächtigen, und wenn Kommunisten seit einiger Zeit das predigen, was sie individuellen Terror nennen, dann braucht man nur das kleine Einmaleins, um daraus fundierte Schlüsse zu ziehen. Für einen Anfangsverdacht reicht es allemal.«
»Aber nicht für das Haftprüfungsverfahren.«
»Bei Ihnen in Berlin vielleicht nicht, bei uns vielleicht doch. Wir sind froh über jeden Mörder, den wir hinter Gittern haben, und wenn es auch nur die Untersuchungshaftanstalt ist.«
»Sie meinen, Sie können binnen einer Woche Beweise vorlegen, die einen Richter überzeugen, die beiden in U-Haft zu nehmen?«
Grüntner öffnete eine Schreibtischschublade, zog eine Mappe heraus und warf sie mir auf den Tisch. Ich schob den anderen Ordner zur Seite und schaute hinein. Auf der Mappe stand Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS. »Was ist das?«
»Lesen Sie«, sagte er gelassen. »Das habe ich vorhin bekommen, kam per Kurier aus Berlin. Ich habe dort gefragt, ob die was haben über unseren Nachtportier.«
In der Mappe lag eine Art Dossier. Auf wenigen Blättern wurde behauptet, Leutbold gehöre zum Militärpolitischen Apparat der KPD. Der M-Apparat habe sich vor kurzem erst zum individuellen Terror bekannt. Man müsse davon ausgehen, dass der M-Apparat Anschläge auf führende Parteigenossen der NSDAP und ihrer Organisation plane. Leutbold sei auf Befehl des Leiters des M-Apparats, des Reichstagsabgeordneten Kippenberger, nach Weimar versetzt worden.
»Schauen Sie sich mal die letzten beiden Seiten an«, sagte Grüntner im Tonfall eines so geduldigen wie verzweifelnden Lehrers.
Es war ein Ausriss aus einer Zeitschrift mit dem Namen Oktober. Ich überflog den Artikel. Ich kannte die Namen, die ich da las: Kuhfeld, Anlauf, Lenck. Ermordete Polizisten. Über den Anschlag auf Kuhfeld stand im Oktober: »In der taktischen Anlage und technischen Durchführung hervorragend.« Und dann las ich: »Terror kann nur durch Terror gebrochen werden.«
Ich erinnerte mich an die Polizistenmorde. Die Täter waren Kommunisten. Ein Name fiel mir ein: Mielke. Der war in die Sowjetunion geflohen, nachdem er die Kameraden Anlauf und Lenck hinterrücks erschossen hatte. Mord im Parteiauftrag. War es nicht logisch, Hitler zu töten, diese Verkörperung des Bösen, jedenfalls in den Augen der Kommunisten?
»Und dieser Sicherheitsdienst ...«
»Der SD ist der Nachrichtendienst der NSDAP«, dozierte Grüntner.
»Ich bezweifle, dass ein Richter diese Papiere aus zweifelhafter Quelle als Beweise akzeptiert. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass Geheimdienste Materialien fälschen.« Ich glaubte mir selbst nicht. Irgend etwas in mir drängte mich, Grüntner zu widersprechen.
Grüntner lächelte.
»Und woher haben Sie dieses Material über den M-Apparat?« fragte Rickmer.
»Man hat so seine Verbindungen. Wir in Thüringen folgen bei unseren Ermittlungen allen Spuren. So haben wir binnen eines Tages, gut, eines langen Tages, mehr über die Beschuldigten herausgefunden, als man mit preußischer Polizeiroutine in Wochen oder Monaten eruiert hätte, wenn überhaupt.«
Ich hätte ihm gerne in seine selbstgefällige Visage geschlagen. Die Mappe über Leutbold musste er heute morgen in Berlin angefordert und per Kurier bekommen haben. Das Bild war so simpel: Die Nazis hassen die Kommune, die Kommune hasst die Nazis. Wenn ein Nazi ermordet wird, muss die Kommune dahinterstecken. Und andersherum. Meistens stimmte es sogar. Wir lebten in Mordzeiten. Jeden Tag wurden
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