Der Consul
Zugschildern. Quietschend hielt der Zug an, er schien fast leer zu sein. Polizisten stiegen ein, ich sah sie den Gang entlanggehen. Sie fingen mit der Überprüfung an beiden Enden des Zugs an und trafen sich in der Mitte. Dann stiegen sie wieder aus. Ich sah auf die Uhr, wir hätten längst weiterfahren müssen. Nervös ging ich zurück ins Abteil und schaute aus dem Fenster zum Bahnsteig, ob wir beobachtet wurden. Die Soldaten bildeten Grüppchen und unterhielten sich. Ich hob Sofias Koffer und meine leere Aktentasche von der Gepäckablage. Sie schaute mich erstaunt an. »Los, wir hauen ab«, sagte ich. Jeden Augenblick konnte der Nachbarzug losfahren. Dann war es zu spät. Wenn die Streife zurückkam, hatten sie uns erwischt. Wenn sie sich meinen Namen und die im Ausweis angegebene Dienststelle gemerkt hatten, würden sie mich in Berlin durch die Mangel ziehen. Aber Sofia hatte eine Chance. Falls sie nicht nach uns suchten, war die Flucht schlimmstenfalls unnötig. Es sei denn, sie schnappten uns, weil wir aus dem Zug abhauten. Dann war es aus.
Ich reichte Sofia die Aktentasche und ging mit dem Koffer vorneweg. Sie sagte nichts und folgte. Ich öffnete die Tür. Auf einem Schild zwischen den beiden Gleisen stand »Lebensgefahr! Nicht auf dieser Seite aussteigen!« Ich sprang hinunter und stellte den Koffer ab. Ich blickte das Gleis hinunter. Ein Pfiff, die Lokomotive des Zugs nach Zschopau zischte. »Schnell!« Ich reichte Sofia die Hand. »Au!« rief sie erstickt. Ich schaute mich um, sie winkte ab. Der Zug rollte an. Ich sprang auf die Treppe vor der hinteren Waggontür und riss die Tür auf. Dann warf ich den Koffer auf die Plattform. Ich zog Sofia hinter mir her, als ich die Treppe hinaufkletterte. Ihr Mantel blieb hängen, sie riss sich frei, ich zog sie zu mir auf die Plattform. Dann schloss ich die Tür. Als ich mich umdrehte, stand ein Schaffner vor mir.
»So, so«, sagte er. »Das war die falsche Tür.«
Ich verlor den Mut. Sofia sagte: »Wir haben es uns anders überlegt.«
»In letzter Minute«, sagte der Schaffner und fasste sich an den grauen Kinnbart.
»In allerletzter Minute«, sagte Sofia.
»Das kann vorkommen«, sagte der Schaffner. »Haben Sie denn eine Fahrkarte?«
Sofia schüttelte den Kopf. »Wir müssen nachlösen. Wir hatten keine Zeit, eine Karte zu kaufen.«
»Das kann auch vorkommen«, sagte der Schaffner. »Wohin wollen Sie denn?«
»Nach Zschopau«, sagte ich. Der Mut kehrte zurück.
»So, so, nach Zschopau.« Sein Bauch wölbte sich, die Wangen hingen, die Stirn glänzte. Ich hörte ihn atmen. Er sah sich um, dann sagte er:
»Ich würde ein bisschen weiter fahren. Zschopau ist keine so schöne Stadt.« Er schaute mich streng an, dann Sofia, schließlich wieder mich.
»Ich würde weiter fahren. Ich würde mir ein kleines Hotel suchen und ein bisschen Urlaub machen. Wenn ich Sie wäre. So ein hübsches Paar.«
Wieder schaute er uns streng an. »Fahren Sie bis Ehrenfriedersdorf, gegenüber vom Bahnhof finden Sie das Fuhrunternehmen Gschwendtner. Sagen Sie dort, ein Schaffner habe Ihnen einen Ferienort empfohlen, Zöblitz. Dort gibt es eine kleine Pension, Zur Linde heißt die. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja«, sagte Sofia. »Danke.«
»Für was?« Er riss zwei Karten von einem Block ab. Ich bezahlte die Karten, und wir gingen vorbei an leeren Abteilen in der dritten Klasse. Wir setzten uns in das letzte. Sofia betrachtete den Riss im Saum ihres Mantels. »Hätte schlimmer kommen können.«
»Dann müssen wir wohl Urlaub machen«, sagte ich.
»Der Mann kann viel verlieren«, sagte Sofia. »Aber wenn er es nicht täte, verlöre er sein gutes Gewissen. Der hat gesehen, dass wir in der Klemme sitzen, und musste helfen.«
»Kommune?« fragte ich.
»Glaub ich nicht, eher ein Sozi. Von denen gibt es eine Menge bei der Bahn.«
»Vielleicht ist es auch eine Falle.«
»Nein. Dann hätte er die Greifer auf uns losgelassen.« Sie lachte. »So Typen wie dich.«
Ich musste husten. Sie konnte lachen, es war unglaublich. Ich hätte fast den Mut verloren, ihr schien die Gefahr wenig auszumachen. Ich fühlte mich schlapp, die Kopfschmerzen wurden stärker, die Nase lief. Bald würde ich nur noch krächzen.
»Ein kleiner Erholungsurlaub wird dir guttun.« Sie sagte es mit unbekümmerter Stimme. Ich verstand es als ihre Art, uns Mut zu machen, aber die Anspannung blieb. Wir fuhren an Witzschdorf vorbei. Am Bahndamm lagen Leichen. Einige trugen die RFB-Uniformen. Eine rote Fahne mit
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