Der Countdown
Sir, warum tragen Sie keine rote Uniform und einen Stetson?”
“Und wo ist Ihr Pferd?” Sallard blinzelte ihm zu. “Sie sollten doch jederzeit fest im Sattel sitzen. Ich wette, Frauen lieben diesen Gag.”
Graham lächelte angesichts des Waldes an leeren Gläsern auf dem Tisch und erklärte, dass die rote Uniform und der Stetson nur zu feierlichen Anlässen getragen wurden. Sonst fuhren Mounties in Autos durch die Gegend und trugen normale Uniformen, die Detectives arbeiteten in Zivil.
“Aber Sie bringen jeden Verbrecher zur Strecke, jedenfalls ist das doch Ihr Motto, oder?”, fragte Finch.
“Nein, das ist das Motto in Hollywood. Für mich bitte nur Ginger Ale”, sagte Graham zur Kellnerin. “Unser Wahlspruch ist: ‘Verteidige das Recht’.”
“Haben Sie denn schon genug über den traurigen Fall unseres Freundes Ray in Erfahrung bringen können?”, fragte Sallard.
“Ich denke, ich kann mir langsam ein Bild machen.”
Im weiteren Verlauf des Abends malten die Reporter dieses Bild weiter aus.
Sie erzählten Graham, dass Tarver ein Einzelgänger gewesen war, der seine Verschwörungstheorien aus Tipps und Gerüchten von gleich gesinnten Kollegen – “es muss da ein Nest geben” – ableitete und Geheimdienstmitarbeiter rund um die Welt beschuldigte. Das Problem war, dass Rays Arbeit mehr auf Theorien denn auf Fakten beruhte. Der Gipfel war erreicht, als die Chefredaktion Tarver verdächtigte, seine Behauptungen zu übertreiben beziehungsweise mehr oder weniger sogar zu erfinden, um so einen Vertrag für ein Buch zu ergattern.
Der Lektor eines Verlagshauses hatte bei der Nachrichtenagentur angerufen, nachdem Ray ein Konzept mit einigen fertigen Probekapiteln eingereicht und ein Enthüllungsbuch über Organhandel vorgeschlagen hatte. Das führte zu einer Überprüfung von Rays letzten Geschichten, was wiederum neue Fragen aufwarf und letztlich zu neuem Ärger führte.
Ray wurde aufgefordert zu kündigen. Das war also die wahre Geschichte.
“Es ist so verdammt tragisch”, sagte Finch, “denn Ray Tarver war früher ein großartiger Reporter und begnadeter Rechercheur, bevor er durchdrehte und zum Witz der Redaktion wurde.”
“Was meinen Sie damit, dass er zum Witz wurde?”
“Wir nannten ihn ‘Wie-ist-die-Frequenz?’-Ray”, antwortete Blair. “Sie wissen schon, das bezieht sich auf diesen Verrückten, der in New York den TV-Moderator Dan Rather überfallen hatte und, während er auf ihn einschlug, immer schrie: ‘Kenneth, wie ist die Frequenz?’“
Der Abend entwickelte sich zu einer Art Abgesang, indem sie auf Tarver anstießen und Anekdoten über ihn erzählten. Zum Beispiel, dass er fest davon überzeugt gewesen war, dass die russische Mafia das Weiße Haus kontrollierte.
Oder wie er sich in eine Sekte einschmuggeln wollte und in der Redaktion einen eigenen Anschluss einrichten ließ, über den er sich als verlorene Seele ausgab. “Ja, Bruder, wie das Alte Buch sagt, ich glaube an die Macht und die Herrlichkeit”, ahmte Sallard ihn nach.
Dann war da die Geschichte um blutdürstige Satanisten, die ihre Opfer unter frischen Gräbern versteckten. Tarver fuhr durch ein halbes Dutzend Staaten aufgrund irgendwelcher Tipps von Hinterwäldlern, die ihn im Austausch für Bier, Burger und Zigaretten veralberten und mit ihm Löcher auf Friedhöfen aushoben.
So verging ein Großteil des Abends, an dem Graham das Verhältnis seiner Kollegen zu Tarver einschätzte, bis sein Handy gegen 23.30 Uhr klingelte.
Die Nummer wurde nicht angezeigt.
Er entschuldigte sich kurz und nahm ab.
“Corporal, hier ist Kate Morrow. Ich muss mit Ihnen noch einmal über Ray sprechen.”
“Okay, wollen wir einen Termin für morgen Vormittag ausmachen?”
“Nein, ich möchte Sie lieber heute Abend noch treffen. Privat. Niemand darf davon erfahren. Es geht um die letzte Geschichte, an der er gearbeitet hat.”
“Was ist damit?”
“Ich habe Ihnen nicht alles gesagt.”
34. KAPITEL
W ashington, D. C.
Zwanzig Minuten später saß Graham allein in einer Ecke des Stargazers Club, einer verschlafenen Bar, zwei Blocks von seinem Hotel entfernt.
Morrow hatte ihm den Weg dorthin beschrieben.
Er hatte es noch vor dem Regen geschafft und fragte sich jetzt, ob sie sich wegen des Schauers verspäten würde. Während er wartete, fragte er in seinem Hotel eventuelle Nachrichten ab. Er erhielt eine Mitteilung von Tarvers Vater, der das Treffen am nächsten Morgen bestätigte.
Gut.
Kurz darauf erschien Morrow
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