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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 1 (German Edition)

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 1 (German Edition)

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod - Folge 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastian Sick
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scheinbar zum Rückzug bereit. Ihr hölzernes Pferd sollte die Trojaner von ihrem Friedenswillen überzeugen. Über die Erkenntnis, dass zwischen Anschein und Wirklichkeit oft brutale Lücken klaffen, versank Troja in Schutt und Asche.
    Der Duden weist darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen scheinbar und anscheinend »relativ jung« ist: Erst im 18. Jahrhundert wurden die beiden Wörter »gegeneinander abgegrenzt und differenziert«. Da sich diese Differenzierung auch im 21. Jahrhundert noch nicht vollständig herumgesprochen hat, kann man sich ungefähr ausrechnen, was das für andere Differenzierungen bedeutet, die bedeutend jünger sind: Die Rechtschreibreform beispielsweise wird sich demnach auch im 23. Jahrhundert noch nicht endgültig durchgesetzt haben.
    Die Hartnäckigkeit, mit der sich scheinbar am falschen Fleck behauptet, ist möglicherweise auch mit der gestiegenen Beliebtheit der Endsilbe -bar begründbar. Außerdem ist scheinbar anscheinend praktischer, zumal um eine Silbe kürzer. Und das Wichtige, der »Schein«, kommt gleich als Erstes und nicht erst in der Mitte. Der Gebrauch des Wortes anscheinend verlangt dem Benutzer einen winzigen Moment des Nachdenkens ab, scheinbar hingegen ist was für Schnellsprecher, die sich beim Reden nur ungern durch Nachdenken aufhalten lassen.
    Dazu gehört anscheinend auch der scheinbar ständig gut gelaunte Radiosprecher vom Sieben-Uhr-Weck-und-Schreck-Kommando. Denn der plappert unbeirrt weiter: »Von seiner letzten Platte verkaufte er gerade mal zwei Millionen Exemplare. Scheinbar will ihn keiner mehr hören.« Was morgens um sieben wirklich keiner hören will, ist dummes Geschwätz. Das ist weder scheinbar so noch anscheinend; das steht völlig außer Zweifel. Höchste Zeit, sich einen anderen Sender zu suchen.
Sinnverwandte Begriffe
scheinbar: nur zum Schein, angeblich, vorgeblich, nicht in Wirklichkeit, vorgetäuscht, trügerisch
anscheinend: allem Anschein nach, wohl, vermutlich, wahrscheinlich, möglicherweise, womöglich

Wie das alte Europa von einem Erdloch verschluckt wurde
    Die Wahl des Wortes des Jahres 2003 fiel auf das »alte Europa«. Doch wie so oft hat man zu früh abgestimmt. Das wahre Wort des Jahres kam erst kurz vor Weihnachten über uns.
    Rechtzeitig zur Weihnachtszeit hatten die Amerikaner im Irak einen Coup gelandet, der die herben Verluste der letzten Monate augenblicklich vergessen machte. In einer fensterlosen Kammer unter einer verwahrlosten Lehmhütte fanden sie – nach neunmonatiger Suche – den geflohenen und untergetauchten Diktator des Irak, Saddam »Pik-Ass« Hussein.
    Damit hat der von christlichem Eifer erfüllte Präsident der Vereinigten Staaten der Welt eine Neufassung der Weihnachtsgeschichte geliefert, die sich ungefähr so liest:
    »Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von Präsident Bush ausging, dass alle Häuser im Lande durchsucht würden. Und diese Durchsuchung war die allergründlichste und geschah zu der Zeit, da Paul Bremer Statthalter in Babylonien war. Und jedermann ging, dass er den Gesuchten finde, ein jeder in seiner Stadt. Und sie fanden ihn unter einer Hütte aus Lehm, in einem Loch in der Erde versteckt.«
    Passend zur Jahreszeit und als wolle er den Amerikanern eine besondere Freude machen, hatte Saddam sich auch noch einen Weihnachtsmann-Look zugelegt: Mit seinem grauen Rauschebart hätte er gut und gerne als Knecht Ruprecht durchgehen können.
    Die Bilder des verhafteten Diktators und seiner letzten Zufluchtsstätte in Freiheit gingen um die Welt. Und ein Begriff brachte es innerhalb kürzester Zeit zu nie da gewesenem Ruhm: das Erdloch. Staunend saß man da und vernahm die Nachrichten, in denen es von Erdlöchern nur so wimmelte.
    Bis zu jenem denkwürdigen Adventssonntag, der uns die Meldung von Saddam Husseins Verhaftung bescherte, waren Erdlöcher in der deutschen Presselandschaft nur selten zu finden. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn für gewöhnlich findet man in Erdlöchern nur Wespen, Würmer und Spinnen, manchmal auch von vorausschauenden Eichhörnchen vergrabene Nüsse. Wer sich tief durchs Pressearchiv wühlt, der stößt gelegentlich auf Erdlöcher, in denen Knochen oder gar eine ganze Leiche verbuddelt waren: »Die junge Frau … wurde erdrosselt, elendig in einem Erdloch verscharrt!« (»Bild«-Zeitung). Ansonsten galten Erdlöcher bislang als unspektakulär und fristeten ein wenig beachtetes Dasein in der afrikanischen Wüste (»Als sie uns sahen, verschwanden

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