Der demokratische Terrorist
Zweiten Weltkrieg vorbeirollte. Ja, es war tatsächlich ein deutsches Kampfflugzeug aus dem Dritten Reich, sogar mit den damaligen Hoheitszeichen auf den Tragflächen.
War Frankfurt damals eine Luftwaffenbasis gewesen?
Stand die Maschine dort als eine Art Denkmal, oder zu welchem Zweck sonst? Außer Carl schien niemand auf diesen bemerkenswerten Anblick auf dem Dach der Ankunftshalle zu reagieren; als der Bus nach dem Eintauchen in die überdachte Auffahrt zu ebener Erde vorfuhr, war die Maschine nicht mehr zu sehen.
Die Fluggäste verließen den Bus und verloren sich bald in der gewaltigen Verästelung von Flughafengebäuden.
Carl machte eine Runde durch die große Ankunftshalle. Er vermutete, daß sich zur Hauptverkehrszeit am späten Morgen oder am frühen Abend sieben oder achttausend Menschen hier aufhielten. Wenn es Terroristen gelänge, mit automatischen Waffen in dieses Gewimmel zwischen Läden und Ausgängen und Transportbändern einzudringen, könnte keine Sicherheitstruppe der Welt eine Katastrophe verhindern.
Unbewußt prüfte er den Fußboden: Seine Joggingschuhe paßten perfekt zu den Gumminoppen der Unterlage.
Er hatte nur eine kleine Reisetasche bei sich, die als erste auf dem Laufband landete. Bei der Paßkontrolle und beim Zoll widmete ihm niemand mehr als zerstreute Aufmerksamkeit; ein gepflegter, sportlicher junger Skandinavier in Freizeitkleidung, wie es in einer Fahndungsmitteilung geheißen hätte. Näslund zufolge hatten die Deutschen ihn etwa so haben wollen. Und wie erwartet hatten sie auch gesagt, sie selbst würden die Waffen stellen, falls und wenn es sich als nötig erweisen sollte.
Dagegen hatten sie nicht gesagt, wann und wo die Kontaktaufnahme stattfinden sollte. Von jetzt an bis zur Ankunft in Bonn mußte er damit rechnen. Aus irgendeinem Grund wollten sie, daß er nach Frankfurt flog, um anschließend mit dem Airport-Expreß nach Bonn zu fahren, statt gleich auf dem Flughafen Köln/Bonn zu landen. Warum, das spielte keine Rolle.
Er genoß es, in der Anonymität der gewaltigen Menschenmasse des fremden Landes zu verschwinden, in der ihn niemand erkennen würde, in der niemand etwas von ihm wußte, und in der es ihm gelingen würde, jede beliebige Identität zu vollständiger Glaubwürdigkeit aufzubauen. Er war auf dem Weg in den Auftrag, und das erfüllte ihn mit geheimnisvoller, fast berauschender Freude.
Der Airport-Expreß war ein außerordentlich eleganter Zug, in dem alles perfekt aufgeräumt und sauber war und in dessen Speisewagen es weiße Tischtücher und richtige Bestecke gab (im Gegensatz zu schwedischen Speisewagen) sowie gutgekleidete Kellner, die ihm, ohne über seine Jeans zu grinsen, zur Begrüßung ein Glas Champagner anboten. Auf einem Tablett im Hintergrund entdeckte Carl eine Batterie des gewöhnlichen Luftlinien-Champagners Pommery in kleinen Flaschen. Carl fragte höflich, ob er nicht lieber irgendeine gute deutsche Entsprechung bekommen könnte, da er sich nun in Deutschland befinde, worauf ihm der Kellner, nach wie vor lächelnd, eine halbe Flasche Deinhard Lila brachte.
Er aß lange und genoß die französische Küche. Er spürte, daß es einige Zeit dauern würde, bis er wieder an einem weißen Tischtuch saß. Nach der Heimkehr aus Kalifornien hatte er mehr als ein Jahr gebraucht, um die europäische Küche wieder schätzen zu lernen; in der ersten Zeit zu Hause hatte er sich ungebremst auch weiterhin von Cheeseburgern ernährt. Jetzt aber aß er mit Genuß Geflügel und trank Beaujoulais und zog die Mahlzeit in die Länge.
Als er aufstand und zu seinem Abteil zurückging, entdeckte er erst die Landschaft, die er bisher keines Blickes gewürdigt hatte, eine märchenhafte Szenerie. Das mußte das Rheintal sein.
Es war Dezember, der Himmel war bedeckt, die Erde schwarz oder braun, und die Rebstöcke oder vielmehr deren Stützen standen in weißen Reihen wie Kreuze auf einem Soldatenfriedhof; der Himmel war grau, das Wasser des Flusses braun, der entlaubte Wald schwarzgrau und braun. Es hätte ein sehr düsteres Bild sein können. Der Zug kam aber immer wieder an kleinen Dörfern vorbei, die so aussahen wie das farbenfrohe Zubehör zu der Märklin-Bahn seiner Kindheit.
Märklin konnte nur aus diesem Land kommen, das war deutlich zu sehen. Und wenn man sich mit einiger Phantasie die Farben so vorstellte, wie sie im Sommer sein mußten, war dies eine der schönsten Landschaften Europas, die da draußen vor dem Fenster vorüberglitt. Von Rheinburg zu
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