Der demokratische Terrorist
und leer im Kopf und begann ziellos durch die Stadt zu laufen. Es fing wieder an zu regnen. Er entfernte sich so weit wie möglich vom Hurenviertel und landete erneut in der Stadtmitte, am Hauptbahnhof und in den großen Einkaufsstraßen. Er drehte eine Runde um die Binnenalster, kam wieder am Alsterhaus vorbei, das ewig geöffnet zu sein schien, und an dem großen weißen Hotel, bevor er den Neuen Jungfernstieg verließ und sich darauf in dem menschenleeren Villenviertel an der Westseite der Außenalster wiederfand, wo er keine Menschen mehr sah, wo sich die Millionäre im Haus versteckt hielten. Die Pistole scheuerte im Rücken. Es tat weh.
Schon bevor er wieder das Hotel erreicht hatte, fühlte er, daß eine Erkältung im Anzug war. Die Nase begann zu laufen, und er hatte wahrscheinlich Fieber. Als er sich neben dem roten Licht in das quietschende Bett legte (er verfluchte seine Vergeßlichkeit; er hatte wieder versäumt, eine farblose Glühbirne zu kaufen), hatte er schon Schüttelfrost. Er wühlte in der Reisetasche nach ein paar Kassetten, setzte sich den Kopfhörer auf und schloß die Augen.
Er blieb achtundvierzig Stunden liegen und rührte sich in dieser Zeit kaum, während sich das Fieber in seinem Körper austobte und die klare Flüssigkeit, die ihm aus der Nase lief, allmählich zu gediegenem dickem Rotz wurde. So feierte er Weihnachten.
Er versuchte es mit Galgenhumor und sagte sich, wahrscheinlich würden auch die Terroristen eine Weihnachtspause einlegen, da sie letztlich auch Deutsche waren, und daß es folglich am besten wäre, diese Zeit der Genesung zu widmen und der Musik zu lauschen, die im Moment das einzige war, was er an Deutschland schätzte. Auf einer der Kassetten fand Carl außer einem oft gespielten und beliebten Klarinettenkonzert von Mozart (A-Dur, KV622 - der Grund, warum er die Kassette gekauft hatte) auf der Rückseite noch ein Konzert für Fagott, das der Köchel-Nummer zufolge - 191 - ein Jugendwerk sein mußte. Carl hatte dieses Stück noch nie gehört und hätte freiwillig etwas so Absurdes wie ein Fagottkonzert wohl nie gekauft.
Aber das Fieber veränderte vielleicht das Zuhören, öffnete vielleicht auch andere Zugänge zu seiner Phantasie, als er sie bisher gekannt hatte. Er spielte das Konzert immer wieder. Er stellte sich einen Adligen im Österreich des achtzehnten Jahrhunderts vor, der aus unergründlichen Motiven schon als Kind dem wenig glorreichen Instrument verfiel, vielleicht weil andere Familienmitglieder die attraktiveren Instrumente schon für sich mit Beschlag belegt hatten - etwas in der Richtung. Und in späteren, mindestens in mittleren Jahren hatte es sich dieser Adlige in den Kopf gesetzt, ein Konzert für Fagott und Orchester zu kaufen, um es selbst aufzuführen. Und er mußte ein Gespür für diesen jungen Lümmel Mozart gehabt haben.
Vielleicht hatte ihn ein Bekannter empfohlen, und der Adlige hatte ein paar Goldstücke ausgespuckt und Mozart dazu gebracht, eine Komposition hinzukritzeln, die dem Auftraggeber vortrefflich ins Konzept paßte: Das Orchester setzte mit unverkennbar hohem Anspruch ein (jetzt, Leute, kriegt ihr was zu hören), und dann geriet das Zusammenspiel der absurd großen Holzflöte mit dem Orchester zu magischer, wunderschöner und dabei kompositionstechnisch einfacher Musik, und das schon nach wenigen Takten. Und vor dem anfänglich skeptischen Familien und Freundeskreis, der immer mehr zu einem verblüfften und bezauberten Publikum wurde, triumphierte der Fagottspieler schließlich mit Klängen, die niemand für möglich gehalten hätte. Etwa so phantasierte Carl vor sich hin. Aber es war letztlich nur eine Phantasie, und er beschloß, in irgendeiner Musikgeschichte unter KV191 nachzuschlagen, um die wahre Geschichte zu erfahren. Er nahm sich das ebenso vor wie den Einkauf einer normalen Glühlampe, vielleicht auch die Anschaffung eines kleinen Heizlüfters. Der Regen prasselte erneut gegen die undichten Fenster, und es zog spürbar.
Am ersten Weihnachtstag stand Carl auf und rasierte sich sorgfältig mit Rasierschaum und Einwegrasierer, statt seinen Elektrorasierer zu nehmen. Frierend wusch er den ganzen Körper mit dem Wasser der Waschschüssel, holte neue Unterwäsche aus der Tasche und packte ein neues Oberhemd aus einem Gewimmel von Stecknadeln. Er erinnerte sich, daß das auch in Schweden früher üblich gewesen war. Vielleicht war es immer noch so, denn er hatte seit vielen Jahren keine schwedische Kleidung mehr gekauft.
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