Der Derwisch und der Tod
Ebene, der dachte an den goldenen Vogel. Sie töteten ihm
die Mutter, sie hatte gesündigt, und ihn schickten sie fort in die Welt.
Wir waren vier Brüder gewesen, und
alle vier hatten den goldenen Vogel des Glücks gesucht. Einer war im Kriege
gefallen, einer war an der Schwindsucht gestorben, einen hatten sie in der
Festung getötet. Meinen goldenen Vogel suche ich nicht mehr.
Wo sind doch die goldenen Vögel der
menschlichen Träume, über welche zahllosen Meere und welche schroffen
Felsengebirge gelangt man zu ihnen? Ob uns dieses tiefe Sehnen kindlicher
Unvernunft im Grunde nur als Wehmut weckendes Zeichen begegnet, eingestickt in
Tücher und geprägt in Saffianeinbände unnützer Bücher?
Ich versuchte, Abul Faradsch zu lesen, ich zwang
mich, ohne rechte Lust, ohne inneres Bedürfnis, ich wollte auch fremde Gedanken
hören, nicht nur die eigenen.
Ich schlug das Buch blindlings auf
und stieß auf eine Geschichte von Alexander dem Großen. Der König hatte, so
wurde da erzählt, wunderbares Glasgeschirr zum Geschenk erhalten. Die Gabe
gefiel ihm gar sehr, und dennoch zerschlug er alles. „Warum? Ist es nicht
schön?" fragten sie ihn. „Gerade darum", erwiderte er. „Die Dinge
sind so schön, daß es mir großen Kummer bereiten würde, wenn ich sie verlöre.
Mit der Zeit aber würde ein Stück nach dem anderen zerbrechen, und ich würde es
mehr beklagen als jetzt."
Die Geschichte war naiv, und dennoch
machte sie mich bestürzt. Der Sinn war bitter: Der Mensch muß allem entsagen,
was er liebgewinnen könnte, denn Verlust und Enttäuschung sind unausbleiblich.
Wir müssen der Liebe entsagen, damit wir sie nicht verlieren. Wir müssen unsere
Liebe vernichten, damit nicht andere sie vernichten. Wir müssen jeder Bindung
entsagen, weil es geschehen kann, daß wir sie betrauern.
Der Gedanke ist grausam
hoffnungslos. Wir können nicht alles vernichten, was wir lieben; immer wird
die Möglichkeit bleiben, daß andere uns das vernichten.
Warum meint man, Bücher seien klug,
da sie doch bitter sind?
Keines Menschen Weisheit konnte mir
helfen. Lieber kehrte ich zu den Anfängen zurück. Das tat ich ohne Anstrengung
und Zwang. Ich suchte nichts, es suchte und fand sich von selbst.
Seit Tagen regnete es, boshaft
trommelte der Regen auf die Schindeln des alten Tekiehdaches, der Ausblick war
verdüstert, verhangen, auf dem Dachboden über meinem Kopf schritten
unsichtbare Beine, da ist ein Balken, der schlägt dir auf den Kopf, da ist ein
Wind, der klappert mit den Fensterläden, und eine Maus, die lugt aus der Ecke.
Da ist eine Kindheit, die schaut mit traurigen Augen aus dem Dunkel.
Für einen Augenblick gelang es mir,
zu denken wie jener ferne, vereinsamte Knabe, zu fühlen und zu bangen wie er.
Alles ist ein schönes Geheimnis, und alles hat nur Zukunft oder ein
grenzenloses Dauern, alles ist umgeben von strahlendem Glanz, von tiefer Freude
oder tiefem Weh. Das waren keine Ereignisse, sondern Stimmungen, manchmal kamen
sie allein, wie ein sanfter Wind, wie eine stille Dämmerung, wie ein wirres
Flimmern, wie Trunkenheit. Oder es zeigten sich Bilderfetzen, Gesichter, die
mit flüchtiger Helle aus dem Dunkel traten, ein Lächeln an sonnigem Morgen, das
Abbild des Mondes im stillen Wasser eines Flusses, ein knorriger Baum an einer
Wegschleife, ich hatte gar nicht geahnt, daß in mir diese Teilchen des früheren
Lebens vorhanden waren, ich wußte auch nicht, warum sie so lange Zeit
überdauert hatten. Kann es sein, daß sie einst viel bedeutet hatten, darum ins
Gedächtnis geschlüpft und dann in unbeachtete Winkel geraten waren, wie altes
Spielzeug. Ich hatte mein einstiges, in der Zeit ertränktes Ich vergessen, und
jetzt tauchten Trümmer und Wrackteile aus der Tiefe.
All das war ich, zerkleinert, ganz
aus Stücken bestehend, aus Abglanz, flüchtigem Aufblitzen, ganz aus
Zufälligkeit, aus unerforschten Gründen, aus einem Sinn, den es gegeben hatte
und der verlorengegangen war, und jetzt wußte ich nicht mehr, was ich
darstellte in diesem Geröll.
Immer mehr glich ich einem Schlafwandler.
Nachts saß ich lange wach,
unbeweglich, zwei Kerzen brannten an zwei Enden des Zimmers, sie sollten mir
die Finsternis vertreiben. Still und sacht, wie
die Nacht um mich herum, wie das Licht in der Nacht, blickte ich auf das schwarze Glas des
Fensters, das mich von der Finsternis schied, auf die grauen Wände, die mich
von allem schieden, wagte nicht, den Blick abzuwenden, als könnten die Wände
auseinanderrücken, wenn
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