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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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ich nur einen einzigen Augenblick
unaufmerksam wäre. Ohne aufzustehen, ohne mich aus der Ecke zu rühren, in der
ich saß, damit ich das ganze Zimmer vor mir hätte, hörte ich zu, wie der
Regen plätscherte, wie die hölzerne Dachrinne gedämpft gluckste, wie die Tauben
mit den Füßchen scharrten und ein verschlafenes Gurren hören ließen, und all
die leisen, eintönigen Stimmen wurden Teil einer nicht weiterrückenden Nacht
und einer leblosen Welt.
    Ich suchte keine Gründe, keine
Ganzheit, keine ununterbrochenen Zusammenhänge mehr.
    Am Ende all dessen, was ich zu
bestimmen, zu verketten, sinnvoll abzugrenzen versucht hatte, stand eine lange
schwarze Nacht und stand unablässig steigendes Wasser.
    Und es blieb der Knabe von der Ebene
– als quälendes Mal.
    Ich machte ihn später ausfindig und
brachte ihn in die Medrese und die Tekieh. Wir erkannten uns kaum wieder, weil
unsere Seelen sich verändert hatten.
    Seine Großmutter war gestorben, er
stand allein auf der Welt. Ein Hirte in dem Dorf, wo man ihn abgesetzt hatte,
ein Waisenkind, dessen Mutter im Kriege umgekommen war und ihm die Erinnerung
an ihren zweifelhaften Verdienst hinterlassen hatte. Und eine schwarze Last auf
der Seele.
    Er glich einer Moorblume, die man
auf einen trockenen Berg verpflanzt hatte, einem Grashüpfer, dem Kinder die
Flügel ausgerissen hatten, er glich dem Jungen von der Ebene, dem die Menschen
die Sorglosigkeit geraubt hatten. Alles war sein: das Gesicht, der Körper, die
Stimme, und doch war er es nicht.
    Niemals werde ich vergessen, wie er
mir gegenübersaß, auf einem Stein, erloschen, stumm, fern, ohne die kleinste
Spur jener vogelleichten Freude, die früher aus ihm gestrahlt hatte, sogar ohne
Trauer, ohne alles, zerschlagen. Du wirst bei mir sein, ich werde für dich
sorgen, du wirst in der Schule lernen, sagte ich, und am liebsten hätte ich
jammernd gerufen: Lach doch, renn dem Schmetterling nach, sprich von der Taube,
die über deinem Schlaf flattert. Doch er sprach von nichts mehr.
    Jetzt, während der Regen fiel,
während ich in der Leere, die sich vor mir auftat, wie ein Ertrinkender nach
der Kindheit, nach Büchern, nach Gespenstern faßte, trat er zuweilen still in
mein Zimmer, manchmal traf ich ihn auch vor der Tür an, wenn mir auf einmal
schien, daß die Stille anders geworden sei.
    Er blieb dann an der Wand stehen –
stumm..
    „Setz dich, Mula Jusuf."
    „Ich kann stehen."
    „Was möchtest du?"
    „Soll ich dir etwas
abschreiben?"
    „Nicht nötig."
    Er blieb dann noch eine Weile, wir
wußten nicht, worüber wir uns unterhalten sollten, unbehaglich war ihm wie mir,
schließlich ging er wortlos.
    Ich wüßte nicht zu sagen, was sich
da hindernd zwischen uns geschoben hatte, welche Bande uns noch aneinander
fesselten und welche Drangsal uns entzweite. Einst hatte ich ihn geliebt und er
mich, jetzt aber sahen wir einander mit toten Blicken an. Was uns verband, war
diese Flußniederung, vor dem Unglück, und die Freude, die jene Zeit
überstrahlt hatte wie Sonnenlicht. Und zugleich erinnerten wir einander
unaufhörlich daran, daß Freude nicht dauern kann.
    Niemals sprach er von seiner
Kindheit, auch nicht von der Ebene, nicht von der Herberge, aber ich vermeinte
in seinen Augen, immer wenn er mich ansah, den Gedanken an den Tod
seiner Mutter zu lesen. Für ihn schien ich untrennbar mit dieser Erinnerung
verbunden zu sein. Vielleicht hatte er auch vergessen, wie es gewesen war, und
betrachtete mich als einen der Schuldigen, weil ich so gewesen war wie die
anderen. Einmal versuchte ich, es ihm zu erklären, doch er unterbrach mich
erschrocken: „Ich weiß."
    Keinem gewährte er Zutritt zu diesem
verbotenen Bereich, keinem erlaubte er, die finstere Ordnung zu stören, die er
in sich geschaffen hatte. Und so gingen wir immer weiter auseinander, heimlich
verbittert, er über sein Unglück, voll Zweifel und Vorwurf, ich über seine
Undankbarkeit.
    Hasan hatte sich mit seinem Vater
versöhnt, er meinte dazu scherzhaft, er habe Vormund, Schwiegermutter und
verwöhntes Kind in ein und derselben Person bekommen, aber die Freude sprühte
aus ihm. Er hatte mit seinem Vater verabredet, daß sein und des Vaters
Besitzanteil zu einer Stiftung gemacht würde, für das Heil der Seele, zugunsten
der Armen und Obdachlosen, er war den ganzen Tag unterwegs, lief hierhin und
dorthin, erledigte alles, was mit der schriftlichen Vereinbarung und der
gerichtlichen Bestätigung zusammenhing, suchte einen geeigneten Mann

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