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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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nicht da, wenn sie
dieses Bedürfnis zu befriedigen wagten. Er benimmt sich natürlich und läßt sich
nichts vormachen, weil er tief verwurzelt ist; der rechte Ernst fehlt ihm und
zum Übertreiben neigt er, weil er allein ist. Darum ist er auch grob, darum
kennt er auch kein Maß. Er hat sich selber eingeredet, er sei zum Gewissen der
Stadt geworden, und die Befriedigung darüber zahlt er mit Armut. Vielleicht
bringt er manchmal etwas Frische, wie ein kühler Wind, aber ich glaube, er erweist
weder der Aufrichtigkeit noch der Gerechtigkeit einen großen Dienst. Beurteilt
man Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit nach ihm, so wirken sie überspannt. Sie
sind dann etwas wie Rache oder wie grimmige Befriedigung, haben aber gar nichts
mit jenem edlen Ziel zu tun, dem die Menschen zustreben sollten. Er ist sich
selbst zum Feind geworden, weil er sich in das Gegenteil all dessen verwandelt
hat, wonach er vielleicht sogar aufrichtig trachtete. Vielleicht ist er eine
Mahnung, aber kein Wegweiser. Denn wenn wir alle so handelten und dächten wie
er, wenn wir offen und grob von jedem Fehler des Nächsten sprächen, wenn wir
gleich wild gegen jeden losgingen, der uns nicht gefällt, wenn wir verlangten,
daß die Menschen leben, wie wir es für gut halten, würde die Welt zu einem
schlimmeren Irrenhaus, als sie es jetzt ist. Unglimpf im Namen edler Gesinnung
ist schrecklich, er würde uns an Armen und Beinen fesseln, uns mit Heuchelei
töten. Besser ist Unglimpf, der auf Stärke beruht, auf bloßer Macht, denn ihn
können wir wenigstens hassen. Von ihm können wir uns lossagen und wenigstens
die Hoffnung bewahren."
    Ich dachte nicht darüber nach, ob
das, was er sagte, richtig sei, auch nicht, ob er es ehrlich meinte. Ich wußte,
er stand auf meiner Seite, er schützte mich vor einem ungerechten Angriff – er
hatte gefühlt, was mich quälte.
    Mit nichts hätte er mich so
beruhigt, weder mit Spott noch mit Witz, noch mit vollkommener Ablehnung, wie
mit dieser wortreichen Erörterung, die vorzüglich meinem Ohr angepasst war.
Sie wirkte überzeugend, weil sie nicht kleinlich war, und mir blieb das Recht,
den Gedanken zu Ende zu führen und den Angriff abzuwehren. Boshafter
Faxenmacher! dachte ich wütend. Bissiger Gassenhund! Das stellt sich über alle
Welt und bespuckt jeden der Reihe nach, Schuldige wie Gerechte, die Sünder
genauso wie die Opfer. Was weiß Ali Hodscha von mir, daß er über mich urteilen
könnte!
    Mein Zorn hielt aber nicht lange
vor, und er ging nicht tief. Bald hatte ich Ali Hodscha vergessen, doch in mir
blieb die wohltuende Wärme von Hasans Worten. Ich dachte gar nicht mehr darüber
nach, was er gesagt hatte, ich wußte es, es war schön und ich war zufrieden. Er
hatte mir die Hand gereicht, wieder einmal, und mich verteidigt. Und das war
viel wichtiger als die dumme Laune des lästernden Hodschas.
    Während Hasan gegenüber Jusuf
Hadschi Sinanudin von der Begegnung und dem Gespräch berichtete, sagte ich
mir, ein wie guter und aufmerksamer Mensch er doch sei und welch ein Glück es
für mich bedeute, auf ihn gestoßen zu sein. Sie lachten, Hadschi Sinanudin
leise, nur mit den heiteren Augen und den Enden der schmalen Lippen, Hasan
laut, den Perlmutt seiner ebenmäßigen Zähne zeigend, und sie unterhielten sich,
nicht nach kluger und ernsthafter Rede trachtend, eher spielerisch, wie Kinder,
wie Freunde, die einander Freude bereiten.
    Hasan übertrieb, verzerrte die Worte
des Hodschas. Er sagte, Ali Hodscha habe nicht mitkommen wollen, weil er sich
vor Hadschi Sinanudin fürchte. Die Sorge um die Gefangenen schaffe ihm, Hadschi
Sinanudin, Befriedigung – wie die Jagd, wie das Würfelspiel, wie die Liebe.
Eine Welt ohne Gefangene sei für Hadschi Sinanudin ein Schreckgespenst. Denn
worin würde dann sein Edelmut schwelgen? Er könne nicht ohne sie sein, und wenn
sie verschwänden, wäre er unglücklich und verloren. Er würde zu den Behörden
gehen, sie bitten: Richtet mich nicht zugrunde, sperrt jemanden ein! Was soll
ich anfangen ohne Gefangene? Wenn sich sonst keiner fände, würde er
vorschlagen, daß man seine Freunde einsperre, damit er für sie sorgen könne.
Denn so würde er ihnen am besten seine Liebe beweisen.
    „Vielleicht würdest auch du mir
diese Freude machen", meinte der alte Mann lächelnd, auf Hasans Scherz
eingehend und ganz gleichgültig gegenüber dem, was Ali Hodscha wirklich über
ihn gesagt hatte. Und gleich übertrug er alles auf Hasan:
    „Und was hat er über dich gesagt?
Daß du

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