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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Aufmerksamkeit hatte mich
ernüchtert, sie verdarb alles.
    Es fiel mir schwer, von der
Zufriedenheit, die mich erfüllte, und von der schönen Erinnerung, die ich gern
festgehalten hätte, abzulassen, aber ich konnte den Zweifel nicht ersticken.
Ali Hodschas Worte über ihn selbst und über Hadschi Sinanudin hatte Hasan
wiederholt, sogar übertrieben. Von mir hatte er geschwiegen. Tat er es nur aus
Aufmerksamkeit?
    Warum hat er nicht gesprochen? Warum
wollte er mich schonen, wenn er wirklich meinte, daß es Verrücktheit sei? Er
meinte nicht, es sei Verrücktheit, darum hatte er es verschwiegen. Er wußte
gut, warum Ali Hodscha mich nicht hatte sehen wollen. Für Ali Hodscha und für
die Stadt gab es mich nicht mehr. Nicht die Stimme, nicht die Gestalt, hatte er
gesagt. Nicht da, der Scheich Nurudin, gestorben war seine Menschenwürde. Was
übrigblieb, war nur die leere Schale des einstigen Menschen.
    Wenn Hasan nicht so dachte, hätte er
dann nicht auch damit scherzen können, wie mit allem andern?
    Oder er wollte meine Empfindlichkeit
schonen. Wenn das zutraf, stand es immerhin gut für mich, obgleich es weh tat.
    Während ich, das Gespräch der beiden
überhörend, versuchte, den Reif loszuwerden, der mir das Herz umspannte, sah
ich draußen auf der Gasse einen Mann vorübergehen, um dessentwillen meine
Gedanken jäh eine ganz andere Richtung nahmen. Ich vergaß sowohl Ali Hodschas
Verachtung als auch Hasans unerklärliches Schweigen über alles. Am Laden ging
Ishak vorbei, der Flüchtling! Alles sprach dafür, daß er es war: der Gang, die
sichere Haltung, der ruhige Schritt, die Furchtlosigkeit!
    Ich murmelte etwas, um mein
plötzliches Verschwinden zu rechtfertigen, und lief auf die Straße.
    Doch von Ishak war nichts zu sehen.
Ich eilte, ihn zu suchen, in eine andere Straße. Wieso tauchte er in der Stadt
auf? Am hellichten Tag, nicht verkleidet, ohne Hast, wie konnte er es wagen,
was suchte er?
    Sein Gesicht stand mir vor Augen, so
wie ich es aus dem Dunkel des Ladens gesehen hatte, leuchtend hell und klar,
wie in jener Nacht im Tekieh-Garten, er war es, ich wurde immer sicherer, jeden
Zug erkannte ich, jetzt noch, nachträglich; er war es, Ishak! Ich dachte nicht
daran, weshalb ich ihn brauchte, dachte nicht daran, warum es darauf ankomme,
ihn zu sehen, ich ging ihm nach; schade, daß Menschen nicht eine Geruchsspur
hinterlassen, wie Iltisse, schade, daß unsere Augen nicht durch Mauern sehen
können, wenn unser Wunsch bis zum Wahnsinn geht, ich möchte ihn bei seinem
Namen rufen, doch er hat keinen Namen, warum bist du erschienen, Ishak, ich
weiß nicht, ist es gut oder schlimm, aber es ist notwendig, er hat gesagt: Ich
komme einmal. Und siehe da, er ist gekommen, jetzt ist dieses einmal, und
alles ist wieder lebendig in mir geworden: der Schmerz und die Qual, so wie
früher, ich dachte, es wäre gestorben und verwest, dachte, es wäre auf den
Grund meines Innern gesunken, unerreichbar, und siehe, es ist da. Ishak, wo
bist du? Bist du ein Gedanke, bist du Same oder Blüte meiner Unruhe? Ich habe
ihn in jener Nacht gesehen, im Garten, ich habe ihn vor wenigen Augenblicken gesehen,
auf der Straße. Er ist kein Gespenst Und ich erreiche ihn dennoch nicht.
    Ich kehrte niedergeschlagen in den
Laden zurück.
    Hasan blickte mich an, ohne etwas zu
fragen.
    „Mir war es, als hätte ich einen
Bekannten gesehen."
    Zum Glück bemerkten sie nicht meine
Verwirrung, gewiß hatten sie, während ich Ishak suchte, über ihre
Angelegenheiten gesprochen, sich weiter unterhalten, freilich auf andere Art,
mit anderer Stimme, mit anderen Worten. Mir war es gleich, ihre Freundschaft
mochte ich nicht mehr. Sie wirkte ein wenig wie Kinderei. Oder wie eine schöne
Lüge. Was jetzt geschah und mich betraf, war ernster und wichtiger.
    Wieder schloß ich die anderen aus,
augenblicks wuchs der Pfad zu, der zu den Menschen führte, ich dachte an Ali
Hodscha, an Ishak, an mich selbst, aufgeregt und verdüstert.
    Es ging mich nichts an, aber wieder
hörte ich ihr Gespräch, ohne es zu verstehen.
    „Ich will nicht", sagte Hasan,
etwas ablehnend. „Ich habe keine Zeit und keine Lust."
    „Ich dachte, du hättest Mut?"
    „Wann habe ich gesagt, ich hätte
Mut? Es hat keinen Sinn, daß du mich stichelst. Ich will mich da nicht einmischen.
Und besser wäre es, auch du mischtest dich nicht ein."
    „Ängstlich, starrköpfig, von nichts
etwas", schloß der alte Mann leise. Aber das war nicht mehr Liebe.
    So ist es besser, dachte ich
kleinmütig

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