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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Gelehrten
Stambuls in den Schatten, hätte er gewollt, er wäre Mulla von Stambul oder
Wesir des Sultans geworden. Aber er liebte die Freiheit und ließ die Zunge
ungefesselt seinen Gedanken aussprechen. Er schmeichelte keinem, log niemals,
behauptete nie, was er nicht wußte, verschwieg nie, was er wußte, und hatte
keine Angst vor Würdenträgern und Potentaten. Er liebte Philosophen, Dichter,
Einsame, gute Männer und schöne Frauen. Mit einer verließ er Stambul und ging
nach Dubrovnik, sie wiederum kam zu ihm in die Provinzstadt. Er verachtet das Geld und die Ämter
und die Macht, er verachtet die Gefahren und sucht sie in finsteren Schluchten
und auf öden Bergeshöhen. Wenn es ihm einfällt, führt er das aus, was er gerade
will, und macht weithin von sich reden.
    Es ist wahrhaftig komisch, wie man,
indem man ein wenig verbessert, Kleinigkeiten vergißt, die Ursachen außer acht
läßt, die wirklichen Begebenheiten ein bißchen zurechtstutzt – wie man so
Niederlagen in Siege, Scheitern in Heldentum verwandeln kann.
    Ich muß freilich zugeben, daß Hasan
an diesem Märchendichten keinerlei Anteil hatte. Nicht er brauchte das
Märchen, sondern wir. Wir möchten gerne glauben, daß es Menschen gebe, die mehr
als das Gewöhnliche vollbringen können. Und so einer war er in gewissem Sinne,
er vermochte mehr, wenigstens in der Art, wie er alles aufnahm, was ihm
widerfuhr. Mit einem Lächeln setzte er sich über Verluste hinweg, er schuf
seinen eigenen inneren Reichtum, glaubte, daß es im Leben nicht nur Siege und
Niederlagen gebe, daß da auch das Atmen und Schauen und Hören sei, das Wort und
die Liebe und die Freundschaft und ein alltägliches Leben, das in vielem einzig
von uns abhängt.
    Nun gut, es ist da, es scheint
dazusein, trotz allem, aber man möchte darüber lachen, es ist ein beinahe
kindlicher Gedanke.
    Drei Tage vor Hasans Rückkehr befiel
Alijaga eine solche Unruhe, daß er sich weder unterhalten noch Tavla spielen,
noch essen, noch schlafen konnte.
    „Hat man was von Hajduken
gehört?" fragte er unablässig, er schickte mich und Fazlija aus, wir
sollten uns in den Herbergen, bei den Fuhrleuten erkundigen, und wir brachten
günstige Nachrichten, doch er glaubte ihnen nicht, oder er deutete sie als
Bestätigung seiner Sorge:
    „Wenn sie seit langem keinen
überfallen haben, ist das noch schlimmer. Die fühlen sich stark, keiner jagt
sie, sie können gerade jetzt im Hinterhalt an der Landstraße lauern.
Fazlija!" rief er unerwartet nach dem Knecht und drehte sich nicht einmal
um, als seine Tochter, die Kadisfrau, ins Zimmer trat, denn das andere war ihm
wichtiger. „Hol zehn bewaffnete Männer zusammen, besorg Pferde, reit ihm
entgegen. Wart auf ihn in Trebinje."
    „Er wird böse drüber sein,
Aga."
    „Mag er böse sein. Such dir einen
Grund. Kauf Feigen oder was du willst, nur komm nicht ohne ihn zurück. Hier
hast du Geld. Bezahle, feilsche nicht, hetz die Pferde, du mußt es
schaffen."
    „Und was wird mit dir, Aga?"
    „Ich wart auf euch, was sonst. Und
frag nicht länger, hau ab!"
    „Hast du genug Geld?"
erkundigte sich die Tochter. „Soll ich dir welches geben?"
    „Ich hab genug. Setz dich." Sie
setzte sich auf die Bank, dem Vater zu Füßen.
    Ich wollte gleich nach dem Knecht
hinausgehen. Der Alte hielt mich zurück, als wollte er mit seiner Tochter
nicht allein sein:
    „Wohin
rennst du?"
    „Ich wollte
in die Tekieh."
    „Die Tekieh kommt auch ohne dich
aus. Wenn du so krank bist wie ich, siehst du, daß alles ohne uns
auskommt."
    „Nur wir kommen nicht ohne alles
aus, sogar wenn wir krank sind", bemerkte die Frau ruhig, ohne Lächeln; es
zielte auf Hasan und war ein Vorwurf gegenüber dem Vater.
    „Was wundert dich da? Bin ich
gestorben, daß ich ohne alles auskäme?"
    „Nein, und Gott mög's verhüten, und
es wundert mich auch nicht."
    Es war mir peinlich ihretwegen. Noch
gut im Gedächtnis hatte ich jenes Gespräch über den Verrat, und ich senkte die
Lider, daß unsere Augen einander nicht begegneten. Sie blickte ruhig, blieb
schön und sicher wie in jenem Gespräch, das ich nicht vergaß. Wie in den
Erinnerungen, die gegen meinen Willen auftauchten.
    Ich wandte den Blick zur Seite, doch
ich sah sie, Unruhe war in mir und etwas wie Wetterleuchten. Sie erfüllte den
ganzen Raum, veränderte ihn, es wurde merkwürdig aufregend, etwas Sündhaftes
war zwischen uns geschehen, ein Geheimnis lag auf uns beiden – wie ein
Ehebruch..
    Wie aber
konnte sie so ruhig sein?
    „Brauchst

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