Der Derwisch und der Tod
Vater, wir sprechen noch
darüber, wir sind doch nicht aus der Welt."
„Es ist dringend. Sehr
dringend."
„Ich komme morgen."
„Komm gleich früh, und berichte mir,
was er gesagt hat. Die Nacht ist gut, etwas zu besprechen."
Was war das? Der erste Riß zeigte
sich dort, wo ich geglaubt hatte, daß die Wand am festesten sei. Ich fühlte
Verachtung für seine Schwäche, die er versteckte, und fühlte Scham, als hätte
ich ihn bei einer schändlichen Sache überrascht.
Ich ging zurück, in den Vorraum,
damit es so aussah, als wäre ich eben gekommen.
Sie hob die Hand, um das Gesicht zu
verschleiern, doch sie unterließ es, als sie mich erkannt hatte. Ich erkundigte
mich nach dem Vater, sie antwortete kurz und wollte vorbei. Ich mußte sie
zurückhalten, ich war nicht mehr verlegen wie einst.
„Nur zwei Worte, wenn du es nicht
eilig hast."
„Ich habe es eilig."
„Im Frühjahr haben wir ein Gespräch
begonnen, wir müßten es zu Ende führen. Mein Bruder ist zwar tot, aber ich
lebe."
„Laß mich vorbei."
„Mit deinem Vater verbindet mich
Freundschaft. Große Freundschaft."
„Was geht mich das an?"
„Ich werde dir bei dem helfen, was
du anstrebst; daß er dich nicht vergißt, bevor er stirbt. Du aber rede dem
Kadi zu, daß er Hadschi Sinanudin freilasse. Sonst hast du nichts zu
erhoffen. Ich biete dir eine Abmachung, dir würde sie am meisten nützen."
„Du bietest mir eine
Abmachung?"
„Jawohl. Und schlag nicht in den
Wind, was ich dir sage."
Über die blitzenden Augen der Frau
huschte ein Schatten von Haß oder Verachtung. Ich hatte sie gekränkt, und das
hatte ich gewollt. Jetzt würde der Kadi Hadschi Sinanudin nicht freilassen,
selbst wenn er die Absicht gehabt hätte.
Es fiel mir nicht leicht, grob zu
sein. Ihr Zorn traf mich wie ein Peitschenhieb. Und göttlicher Gnade bedurfte
ich, wenn sie sich herabließ, mein Feind zu sein.
Ich trat in Alijagas Zimmer, mehr an
das Blitzen in den Augen der Frau denkend als an ihre Schönheit. Worauf zielten
ihre verborgenen Gedanken, der Geist, der zu hitzig war, als daß er Ruhe gäbe?
Was würde aus ihrem verschlossenen Schweigen hervorgehen? Sie wäre vielleicht
eine gute Ehefrau und eine gute Mutter, was aber, wenn sie das nicht sein
konnte?
„Hast du den Brief
abgeliefert?"
Zerstreut blickte ich auf den Alten,
noch beschattet von der Verachtung der Frau.
„Deine Tochter war hier?"
„Sie kommt jeden Tag. Macht sich
Sorgen, weil ich so wenig esse. Hast du mit ihr gesprochen?"
„Spricht sie überhaupt mit
jemandem?"
„Ich glaube schon. Du magst sie
nicht?"
„Ich habe sie um Hilfe gebeten, für
Hadschi Sinanudin. Sie soll den Kadi überreden, ihn freizulassen."
„Und? Was hat sie geantwortet?"
„Nichts."
„Manchmal ist sie merkwürdig."
„Wie fühlst du dich? Du siehst
gestärkt aus."
„So wohl fühle ich mich, daß ich
noch wünschen werde, Gott verzeih mir's, man möge mir jeden Tag Freunde
einsperren."
Diese Stimme klang zuversichtlich,
munter. Hatte ich nicht eben eine ganz andere gehört, eine furchtsame und
weinerliche?
Was für ein Spiel spielte er da? Mit
wem? Mit sich selbst, der anderen wegen? Oder mit den anderen, seiner selbst
wegen? Und was war er? Ein Bündel Gewohnheiten? Ein bloß erdachtes Bild seiner
selbst? Lange bewahrtes Erinnern? Was war wichtiger: was die anderen von ihm erwarteten
oder seine eigene Ohnmacht? Beides lebte in ihm und konnte seine Entscheidung
prägen.
Der alte Stolz trieb ihn, sich
einzumischen, doch alles, was er jetzt war, wehrte sich dagegen. Die Müdigkeit
der Todesnähe veranlaßte ihn, die Augen zu schließen, und zugleich zeigte er
den Menschen das Trugbild der einstigen Kraft, ihren Schatten. Endet jeder
Mensch so: Daß er mit seinem früheren Ich kämpft?
Was würde den Ausschlag geben?
„Der Kurier wollte mich
erpressen", sagte ich und ließ mich am Fußende seines Bettes nieder. „Er
wurde unverschämt, als er sah, daß auf dem Brief kein Name stand."
„Warum schickst du ihn nicht zum ...
Verzeih. Du hättest bezahlen sollen. Er wäre sofort weich geworden."
„Ich bin ziemlich erschrocken. Und
das brachte mich darauf, mich zu fragen, ob es in Ordnung ist, daß ich dich mit
dieser Sorge belastet und dich überredet habe, mitzumachen."
„Ich weiß nicht, wovon du
sprichst."
Seine Stimme klang ungeduldig,
beinahe gekränkt.
„Überreden kannst du einen Narren
oder ein unvernünftiges Kind, aber nicht mich. Du hast nur von dem Brief
gesprochen. Ich habe gesagt, wir
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