Der Derwisch und der Tod
verzaubert. Dieser Geschichten von Abul Faradsch und der vier
goldenen Vögel wegen. Er hatte sie auf einem Tuch gesehen, dem einzigen
Gegenstand, der mir aus meinem Elternhaus geblieben war, mein Vater hatte mir
einmal, vor langer Zeit, harte Honigkuchen in einem Bauernhandtuch gebracht,
und über dem groben Gewebe hatte das feinere Tuch, mit den Vögeln, gelegen. Das
hatte er sich gemerkt.
Es ist schwer zu glauben, doch es
ist die Wahrheit – ich war tief gerührt. Weil ein Mensch sich meiner erinnert
hatte. Um nichts, um keines Nutzens willen, aus reinem Herzen –
oder aus Laune vielleicht. Mit solcher Aufmerksamkeit also besiegt man auch
einen alten, hartgesottenen Derwisch, der gemeint hat, er sei all seiner
eigenen kleinen Schwächen Herr geworden. Sie sterben aber offenbar nicht so
leicht. Und sind auch nicht klein.
Die Nacht verging, ich aber saß, wie
von einem milden Licht bestrahlt, mich selbst belächelnd ob der Aufregung, die
ich mir nicht erklären konnte. Aber ich mochte sie nicht missen.
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Schwach ist, wer verlangt, doch schwach ist auch, was man von ihm verlangt.
Am Morgen wanderte ich aufs Feld, stieg einen
blütenübersäten Hang hinauf, blieb an einem niedrigen Obstbaum stehen, das
Gesicht in einer Traube von Blüten, Blättchen, Schälchen, Fächern – tausend
lebendige Wunder, alle bereit zur Befruchtung, eine berauschende Süße ging auf
mich über von all dem Schwellen, vom Strömen der Säfte durch unzählige unsichtbare
Adern, und wieder drängte es mich wie am Tage vorher, beide Hände in das
Gezweig zu tauchen, damit mich das farblose Blut der Pflanzen durchfließe und
damit ich ohne Schmerz blühe und welke. Und gerade dies, daß der seltsame
Wunsch sich zum zweitenmal regte, konnte mich von der Schwere der Qual
überzeugen, an der ich trug.
Aus dem Wald drang hallender
Axtschlag herüber, in gleichbleibenden Abständen, in denen das Ausholen
kräftiger Arme lag und eine kurze Stille nach dem Schlag, selbst über die Ferne
hin wußte ich, es war eine scharfe Axt mit langer Schneide, und sie fuhr mit
bösem Pfeifen ins Holz, fraß sich grimmig ins Mark. Auch der Kuckuck ließ sich
mit seinem zweisilbigen Klagelied hören, das traurig-gleichgültig war wie das
Schicksal, und dann noch das Rufen einer Frauenstimme, heiter, durchdringend,
unverständlich, die Frau war jung, von der Frühlingssonne gebräunt,blickte
heiter, ich sah sie nicht, wandte mich der jungen Stimme zu wie der Kaaba [21] beim
Gebet, und ich wußte alles über sie. Nichts als diese drei Stimmen in der
Stille des Frühlingsmorgens, im Raum einer fremden Welt. Ich schloß die Augen,
ein süßer Geruch von Pollenstaub war in mir, und ich lauschte: Drei ganz
einfache Stimmen. Und dann erlebte ich einen ungewöhnlichen Augenblick des
Vergessens. Da war kein Erinnern, sondern ein Gegenwärtigsein in einer anderen
Zeit, einer viel früheren, da gab es nichts von meinem jetzigen Ich, da war nur
ein leichtes, freudiges Empfinden des Daseins, ein bebendes Verwachsensein mit
allem ringsum. Ich wußte, das Beil war das meines Vaters, seine starken Arme
waren es, die im Wald über unserem Hause ausholten. Auch den Ruf des Kuckucks
erkannte ich wieder, nie hatte ich ihn gesehen, aber er meldete sich immer von
derselben Stelle. Ich kannte auch das Mädchen, sechzehn Jahre zählte sie, ich
sah sie über soviel endlose Zeit hinweg, als wäre das Schreiten der Zeit ausgelöscht, und nichts hatte
ich vergessen, nicht den feinen goldenen Flaum über ihren lächelnden Lippen,
nicht ihren schlanken, mit zwei Händen zu umfassenden Leib, nicht den
Liebstöcklduft, der ungeschwächt die Jahre überdauerte. Wen rief das Mädchen
über die Zeit hinweg? Ich konnte nicht antworten, konnte nicht zurück.
Aus dieser Verzauberung durch ferne
Zeit riß mich eine fröhliche Begegnung. Auf dem Wege kam mir ein Knabe
entgegen, er riß Blumen ab und schleuderte sie in die Luft, warf mit harten
Erdklumpen nach Vögeln, rief unverständliche Worte aus, die er wohl selbst
erfunden hatte, war fröhlich und sorglos wie eine junge Katze. Als er mich
erblickt hatte, wurde er gleich still und ernst und trat zur Seite. Ich paßte
nicht in seine Welt.
Vor langem, vor vielen Jahren traf
ich auf einem anderen Wege, in einer anderen Gegend, genau so einen Knaben. Ich
hatte überhaupt keinen Grund, mich seiner zu erinnern und die beiden zu
vergleichen. Aber es geschah eben, ich erinnerte mich. Vielleicht deshalb, weil
dieser Tag zum Erinnern bestimmt war, oder
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