Der Derwisch und der Tod
weil ich auch damals an einem
Kreuzweg des Lebens stand, so wie jetzt, oder weil sie beide pausbäckig waren,
hingerissen und sich selbst genug in der öden Gegend und weil der eine wie der
andere mit ernster Miene an mir vorbeiging, so als hätte ich ihnen die Freude
vertrieben. Ich fragte den Jungen, dessen Augen wie Hanfblüten waren, dasselbe
wie den Knaben von einst, die Frage war alt und klang traurig, aber das wußte
er nicht.
Zum Glück fiel das Gespräch zwischen
uns ganz anders aus als jenes frühere. Ich schreibe es gleichsam zum Ausruhen
auf, ohne anderes Bedürfnis, so wie ein müder Wanderer am frischen Wasser
innehält.
„Zu wem gehörst du, Kleiner?"
Er blieb stehen, sah mich keineswegs
freundschaftlich an.
„Brauchst du nicht zu wissen."
„Gehst du in die
Glaubensschule?"
„Ich geh nicht mehr. Gestern hat
mich der Hodscha durchgeprügelt."
„Zu deinem eigenen Nutzen hat er
dich geprügelt."
„Wenn das Nutzen ist, könnt ich
haufenweis davon austeilen. Der Hodscha teilt ihn auf unsere Hintern aus. Bei
jedem Wort läuft der blau an wie eine Eierfrucht."
„Sag keine häßlichen Wörter!"
„Ist denn Eierfrucht ein häßliches
Wort?"
„Bist ein schlimmer Teufel."
„Sag keine häßlichen Wörter,
Effendi!"
„Hast du gestern genauso vorlaut
gesprochen?"
„Gestern war ich noch Trommel für
den Hodscha. Heute bin ich wie dort der Vogel. Wolln doch mal sehn, ob mich
jetzt einer haut!"
„Was sagt dein Vater dazu?"
„Er sagt: Ein großer Gelehrter wirst
du sowieso nicht. Und pflügen kannst du mit oder ohne Buchstaben
im Kopf, der Boden wartet auf dich, wir wollen ihn doch keinem andern geben.
Und Prügel austeilen, das kann ich auch, sagt er."
„Willst du, daß ich mit deinem Vater
spreche – ich könnte dich in die Stadt mitnehmen? Du würdest zur Schule gehen
und doch ein Gelehrter werden."
Das hatte ich auch jenem Knaben von
einst gesagt, jetzt ist er in der Tekieh – ein Derwisch. Der Junge vor mir aber
war anders. Die Fröhlichkeit verschwand aus seinem Gesicht, und es zeigte sich
Haß. Einen Augenblick sah er mich finster an, in wütender Unentschlossenheit,
dann bückte er sich blitzschnell und hob einen Stein vom Weg auf.
„Dort ist mein Vater", sagte er
drohend. „Beim Pflügen. Geh meinetwegen hin, und sag's ihm, wenn du dich
traust."
Vielleicht hätte er tatsächlich den
Stein geworfen. Oder er wäre heulend ausgerissen, den Berg hinauf. Er war
klüger als der Junge von damals.
„Nein", sagte ich versöhnlich,
„keiner kann dich zwingen. Vielleicht ist es auch besser, du bleibst
hier."
Er stand verwirrt, ließ aber den
Stein nicht aus der Hand.
Ich ging weiter und wandte mich ein
paarmal um. Er rührte sich nicht von der Stelle, als Sperre zwischen seinem
Vater und meinem Angebot, aufgestört und mißtrauisch. Erst als ich mich
entfernt hatte und er keinen Grund mehr zu Befürchtungen hatte, warf er den
Stein weit weg ins Korn und rannte auf seinen Vater zu.
Eine kleine Frau öffnete das Tor, und während sie
der Form halber das Gesicht ein wenig mit dem Schleier verdeckte, wies sie mich
zum Garten, dort seien, sagte sie, drei Verrückte dabei, einen Tollwütigen
einzufangen, ich könne ja hingehen, wenn ich wolle, ich könne aber auch hier
warten, sie würde es Hasan melden und mir dann berichten, was er gesagt habe,
wenn er überhaupt etwas sage, denn heute sei er nicht gesprächig.
„Ich gehe hin", erwiderte ich,
die Frau schloß das Tor und trat ins Haus.
In dem großen Garten hinterm Haus,
auf einer von Pflaumenbäumen umgebenen freien Rasenfläche, bemühten sich zwei
Knechte Hasans, einen jungen Hengst einzufangen. Hasan stand innerhalb des
Zauns am Rande und sah ruhig und wortlos zu, mitweilen feuerte er sie mit
kurzen Ausrufen und Flüchen an.
Ich blieb außerhalb des
grasbewachsenen Kampfplatzes, wo unter den Hufen des scheuenden Pferdes
Erdklumpen aufflogen.
Abwechselnd versuchten der eine und
der andere Knecht, dem Pferd beizukommen, der ältere war klein und stämmig, der
jüngere groß und schlank. Merkwürdig war, daß sie es nicht gemeinsam
versuchten, sie hätten das Tier leichter in die Gewalt bekommen, und
merkwürdig war, daß Hasan schwieg, daß er die beiden sich quälen ließ.
Der Hengst, mit schwarzem,
glänzendem Fell, starker Kruppe, sehnigen Beinen und schlanken Fesseln, stand
mitten im Garten, erbost, die rosigen Nüstern geweitet, die Augen rollend,
Zucken und Beben lief in kleinen Wellen über seine gespannten
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