Der Derwisch und der Tod
Augenblick nur die
Seiltänzerei des Geistes geweckt hatte, wie Haschisch, und ich mußte ihm noch
etwas davon geben, mehr, damit er nicht in noch schlimmere Starre zurückfalle.
Es war der merkwürdigste Kampf, von
dem ich je hörte, gegen den Tod in ihm, gegen die Lähmung des Willens, den
Lebensekel. Ein Kampf, schwer und quälend vor allem deswegen, weil er mit
unnatürlichen Mitteln geführt werden mußte, mit verdrehtem Denken, mit
widerlicher Paarung unvereinbarer Gefühle, mit Vergewaltigung des Wortes. Und
ich fürchtete – und wie ich es fürchtete –, seine Aufmerksamkeit könne in dem
Augenblick erlahmen, da ich mit dem Spiel aufhörte und auf das wahre Ziel
zusteuerte, um dessentwillen ich doch alles tat. Ich mußte das eigentliche Ziel
vorsichtig umkreisen, mußte mich ihm nähern und es zugleich verbergen, denn es
konnte geschehen, daß seine Sinne sich ganz von selbst verschlössen, sobald er
es entdeckte.
Zum Glück verstellte er sich nicht,
war seine Miene nicht undurchdringlich, vielmehr zeigte er alles, ließ alles
von seinem Gesicht ablesen, Gefallen ebenso wie Angewidertsein. Darum lenkte
ich meine aufgeregt flatternden Gedanken ganz nach der Folge von Licht und
Schatten auf seinem Gesicht, glücklich über diesen Wegweiser, denn er hätte ja
auch fehlen können.
Alles an ihm schien zu sagen:
Überrasche mich, weck mich auf, biete mir etwas Fesselndes, und ich bemühte
mich, ihn zu überraschen, zu wecken, ihm etwas Fesselndes zu bieten, kämpfte
verzweifelt darum, einen Sterbenden am Leben zu erhalten, ständig am Rande der
Furcht vor dem Mißlingen, und doch lag meine ganze Hoffnung in ihm. Ich stülpte
um, was ich im Kopf hatte, wühlte fiebrig in den Winkeln des Gehirns, um da
Teufelsdreck zu finden, kämpfte mit einem Leichnam, damit nicht noch einer zum
Leichnam würde, und erst, als er sich setzte, als sein schwammiges Gesicht
einiges Interesse und etwas Leben verriet, schöpfte ich für einen Augenblick
Atem, und meiner Hoffnung wuchsen Flügel.
„Ich habe einen Bruder",
sprudelte ich hervor, nicht wissend, ob das wiederum stark genug wäre. „Aber
wenn ich dir das nicht ganz schnell mitteile, kann es geschehen, daß ich sagen
muß: Ich hatte ihn. ‚Ich habe ihn’ und ‚ich hatte ihn’, das heißt
wiederum dasselbe wie ‚ich habe ihn’ und ‚ich habe ihn nicht’. Und darüber
entscheiden kann ein Zucken von jemandens Gunst oder Mißgunst. Mein Bruder ist
er – nicht deshalb, weil ich ihn gewollt hätte, denn hätte ich ihn gewollt, so
hätte ich ihn auch gemacht, und dann wäre er nicht mein Bruder, ja, ich weiß
auch nicht, ob ihn mein Vater gewollt hat, aber als er sich mit meiner Mutter
paarte, als der Tropfen trüben Schleimes in die Gebärmutter Eingang fand, da
wuchs aus diesem Vergnügen für die beiden, aus diesem Nichts für mich die
Bindung und die bindende Pflicht, die Sohn und Bruder heißt. Ob es erwünschter
Trost ist oder gewohnte Not, Gott bindet ihn an uns, ohne uns zu fragen, läßt
uns nicht teilhaben an allen seinen Freuden, beschwert uns aber mit allen
seinen Nöten, allem seinem Unglück, und wie dein erhabener Geist wohl weiß,
gibt es an Unglück weit mehr als an Freuden, so daß wir sagen könnten, ein Bruder
sei ein Unglück, das uns Gott schickt, und darum nehmen wir ihn an als von Gott
gewollt und als göttliche Bestimmung, dankbar für ihn wie für alles. So danke
ich denn Gott für das Unglück, doch hätte ich's lieber, er wäre dein Bruder, so
daß ich für das Glück danken könnte, dir zuzuhören, wie du mir jetzt zuhörst,
und daß es mich nichts anginge. Da er aber nicht dein Bruder sein kann, weil er
meiner ist, und ich nicht du sein kann, weil Gott bestimmt hat, daß ich nur ein
unwürdiger Derwisch sei, bleiben wir bei dem, was wir sind: Ich bitte, und du
mögest entscheiden. Oder besser: Ich werde dir erzählen, und du mögest zuhören.
Für dich ist es schwerer, ich weiß. Du mußt nicht, ich muß."
Ich habe ihn aufgeweckt, er ist
lebendig geworden, er blickt, lauscht, begreift, nimmt auf! Es braucht keinen
Bauchtanz, leere Worte genügen, laß sie säuseln wie Wind, Purzelbäume schlagen
wie Affen, laß sie zwischen den Strahlen der Frühlingssonne und den Schatten
des Zimmers sich ausgelassen, wie Verrückte, tummeln, und was geschieht – er
hat sich niedergelassen und lauscht und wartet.
„Und weiter?" fragte er
ziemlich lebhaft.
Und der Mann, der sein erster
Schatten war, glotzte mich an, wunderte sich, vielleicht lernte
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