Der Derwisch und der Tod
er etwas. Ich
sah ihn nicht gut, denn er ging mich nichts an. Ich blickte auf das Gesicht des
Muftis.
Es gibt Hoffnung, Bruder Harun!
„Einen Bruder also habe ich,
vielmehr, ich habe ihn halb, ich nenne ihn hier, und er ist in der Festung
eingesperrt. Die Hälfte seines Lebens ist hier, die Hälfte droben. Wenn er
diese Hälfte hier verliert, könnte er auch die andere verlieren."
„Was ist das für eine: diese
Hälfte?"
„Die ich noch festhalte, indem ich
erzähle."
„In welcher Festung?"
„In der Festung, über der
Stadt."
„Nun gut, sprich weiter."
„In der Festung werden böse Menschen
eingesperrt, Spitzbuben, Totschläger, Räuber, Feinde des Sultans. Manchmal.
Meistens aber Narren. Weil sie meinen, sie hätten keine Schuld, doch das kann
der Mensch nie wissen. Ewig wollen sie die Welt verbessern, die krumme Drina
gerade fließen lassen, dabei ist es nicht ihre Sache, und keiner verlangt es
von ihnen. Weil sie noch stolz sind auf ihren Wahnsinn, ist es ein Kinderspiel,
sie zu fassen, deshalb sind es ihrer am meisten, dort droben. Daraus könnte man
schließen, in Freiheit wären nur die Klugen, aber das stimmt nicht; draußen
bleiben auch die, die zu verheimlichen verstehen. Und nicht draußen bleiben die
Klugen, wenn sie's nicht verheimlichen. Schließlich bleiben die draußen, die
das Recht haben, so zu sein, wie sie wollen. Mein Bruder war niemand und
nichts, ein glücklicher Mensch, nicht so klug, daß man ihn fürchtete, nicht so
wahnwitzig, daß man nicht gewußt hätte, was er vielleicht tun würde, zu feige,
um ein Räuber zu sein, zu naiv, um schlecht zu sein, zu träge, um jemandes
Feind zu sein. Mit einem Wort, durch Gottes Vorsehung war es ihm bestimmt, daß
ihn die Leute grüßten, ohne ihn hoch zu achten, daß sie seinen Wert gelten
ließen, ohne zu verlangen, daß er ihn zeige."
„Warum ist er eingesperrt?"
„Weil er seinem Vater nicht gehorcht
hat."
„Interessant."
„Der Vater ist ein einfältiger
Mensch, er arbeitet, soviel er kann, gibt, soviel er muß, nichts weiter berührt
ihn als Regen, Wolken, Sonne, Raupen am Kartoffelkraut, Taumellolch im Weizen,
die Brandkrankheit im Mais und der Frieden in der Familie. Weil er nun von ganz
schlichtem Gemüt ist, aus einem einzigen Stück geschnitzt wie ein hölzerner
Löffel, wie ein Lindenholznapf, wie der Griff des Pflugs, verzichtete er nicht
auf die unnütze Elterngewohnheit, das zu sagen, was Väter seit eh und je sagen,
worauf die Kinder aber niemals hören. Er riet ihm, nicht aus dem Hause zu
gehen, der Boden würde unbestellt bleiben, in den Städten aber sei es eng,
wenig Raum gebe es und viele Münder, wenige Möglichkeiten und viele Wünsche,
um eines größeren Stück Brotes willen würden wir anfangen, uns gegenseitig an
die Kehle zu gehen. Mein Bruder hörte nicht auf ihn. Darauf sprach der Vater:
Merke dir, das Unglück ist, daß bei uns keiner glaubt, er sei am rechten
Platze, und jeder ist jedem ein möglicher Nebenbuhler; die Menschen verachten
den, der keinen Erfolg hat, und hassen den, der über sie aufsteigt; gewöhn dich
an die Verachtung, wenn du Frieden wünschst, oder an den Haß, wenn du den
Kampf aufnimmst. Aber tritt nicht in die Schranken, wenn du nicht sicher bist,
daß du den Gegner bezwingen wirst. Weise nicht mit dem Finger auf fremde
Unredlichkeit, wenn du nicht stark genug bist, es nicht beweisen zu müssen.
Auch darauf hörte er nicht. Jetzt hat der Vater Grund, sich zu freuen und zu
sagen: Siehst du, so ergeht es ungehorsamen Söhnen."
Während ich so sprach, bemerkte ich
mit Schrecken, daß das schwache Licht in den Augen des Muftis matter wurde, die
Lider schienen schwer und müde zu werden, und etwas Verstörtes zeigte sich in
seinen Mienen.
Er fragte, kaum den Mund öffnend:
„Wer war ungehorsam?"
O Gott, Allmächtiger! So sorgsam war
ich vorgegangen – und dabei immer weiter weggerückt. Sobald ich mich dem
näherte, was mir das Ziel war, erschrak er. Sobald ich das zu nutzen gedachte,
was ich aufgebaut hatte, zerstörte er alles. Ich konnte und konnte es nicht
erreichen!
Ich hastete, stürzte blindlings
vorwärts. Noch war in ihm wenigstens ein Fünkchen Leben, sonst hätte er nicht
einmal gefragt. Ich wurde uninteressant, langweilte ihn mit meinem Räsonieren,
ich spielte nicht mehr, sondern spottete, die Verbitterung riß mich fort, und
alles begann ernst zu klingen. Mir schwindelte – ich bitte dich, wart noch ein
wenig, einen einzigen Augenblick bleib noch wach!
Der letzte
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