Der Derwisch und der Tod
gehört), mich den Wartenden näherte, die im Schutz der Sonne standen, von
diesem Weg ins Nichts durch die Brücke getrennt, sah ich den Flüchtling Ishak,
mit einem beschuhten und einem bloßen Fuß, sein Gesicht war hart wie das der
anderen, er war eins mit ihnen, durch nichts unterschieden sie sich, ich sah
die Männer wie einen vervielfachten Ishak, mit vielen Augen und einer einzigen
Frage. Ishaks wegen glaubte ich zu erraten, warum sie hier auf der Grenzlinie
standen und was sie zu erfahren begehrten. Ich erriet es, ganz bestimmt, ahnte
es, seinetwegen, und wagte nicht, den Blick vom Pflaster zu heben, vielleicht
würden sie auseinandertreten, vielleicht würden wir irgendwie aneinander
vorbeigehen, ich würde so tun, als wäre ich in Gedanken versunken und als
bemerkte ich nicht, daß sie auf etwas warteten, mochten sie auch wissen, daß es
nicht der Wahrheit entsprach, mochte auch er meinen, ich wollte nur ihrem
Blick ausweichen. Aber lieber wäre mir's gewesen, er stünde nicht bei ihnen.
Sie wären gar nicht gekommen, wenn er sie nicht herbeigeholt hätte.
Da mir aber die Wand der Beine den
Weg verlegte, hob ich die Augen zu Ishaks Gesicht, ich mußte sehen, was er
wollte, ausweichen konnte ich nicht. Da war es ein anderer. Ich wußte, wo er
gestanden hatte, der dritte von links. Jetzt aber blickte mich von dieser
Stelle ein hagerer Mensch an, gar nicht verwundert darüber, daß ich vor ihm
stehenblieb.
Beharrlich waren ihre Augen, weit
aufgerissen – sie warteten. Wo war er? Weder rechts von dem jungen Mann noch
links, bis zum Ende der Reihe fand ich ihn nicht, ich zählte nicht, doch ich
wußte, es waren neun, ich streifte mit dem Blick ihre Gesichter, als wollte ich
eine Musterung geschlossener Münder und gespannt gerunzelter Brauen abhalten,
ich vergaß, daß sie etwas wollten, ich suchte Ishak. Ich wußte nicht, warum ich
ihn brauchte, wußte nicht, was ich ihm sagen würde, doch ich beklagte es, daß
ich ihn nicht fand. Dabei hatte ich ihn gesehen, aus der Ferne zwar, zwanzig
Schritte war ich gesenkten Blickes gegangen, und die Sonne hatte die Männer
übergossen, sie vergoldet, in dieser anderen Welt, wie Fackeln hatten sie
geleuchtet und geblendet, aber ganz gleich, meine Seele hätte ich zum Pfand
dafür gesetzt, daß ich ihn erkannt hatte. Diesen da brauchte ich nichts zu
sagen, auch wenn ich etwas zu sagen gewußt hätte.
Ich ging weiter, sie traten
auseinander, um mich durchzulassen. Ein paar Augenblicke war es still, ich ging
allein, und dann kratzten Schritte übers Pflaster – sie folgten mir. Ich
beschleunigte den Schritt, um von ihnen freizukommen, sie blieben mir auf den
Fersen, hasteten, der erreichte Abstand hielt sie nicht zurück. Es schienen
immer mehr zu werden.
Dämmerung senkte sich auf die Stadt,
Frühlingsdämmerung, die Gassen lagen in bläulichem Licht und blieben bangend
still.
Ich hatte den Muezzin [24] nicht gehört,
wußte nicht, ob es Zeit fürs Gebet sei, doch die Moschee stand offen,
eine einzige Kerze brannte in dem hohen Leuchter.
Ich trat ein und ließ mich auf
meinem Platz an der Stirnseite nieder. Ohne mich umzuwenden, hörte ich, wie die
Männer hereinkamen und sich hinter mir niederließen, ohne Worte, ohne Gemurmel.
Niemals sonst waren sie so leise. Auch im Gebet blieben sie still und würdig,
ernst, schien mir. Aufgeregt nahm ich den feierlichen Marmor hinter mir wahr.
Während der Gottesdienst noch
dauerte, spürte ich, daß er eine seltsame Wendung nahm, anders war es als
jemals sonst, heißer und gefährlicher – er bereitete etwas vor. Ich wußte, er
durfte diesmal nicht enden wie sonst. Das Amen war ein Anfang, kein
Ende; es klang gepreßt, fragend, wartend. Worauf warteten sie? Was würde
geschehen?
In dem Schweigen, in der
Reglosigkeit, bei ihrer Absicht, nicht fortzugehen, obgleich das Gebet beendet
war, wurde mir das klar, was ich nicht zu wissen begehrte. Sie wollten mich
sehen, jetzt, zu der Stunde, da ich von dem Unglück erfahren hatte, wollten,
daß ich zeigte, was ich in dieser Stunde sei.
Das aber wußte ich selbst nicht, und
ich wußte nicht, welche Antwort ich ihnen geben solle.
Alles hing von mir ab.
Ich konnte aufstehen und
hinausgehen, vor mir selbst und vor ihnen fliehen. Auch das wäre eine Antwort
gewesen.
Ich konnte die Männer bitten,
hinauszugehen, damit ich in der Stille der leeren Moschee alleinbliebe. Auch
das wäre eine Antwort gewesen.
Doch alles würde dann in mir
bleiben. Nichts würde zu einem anderen dringen.
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