Der Derwisch und der Tod
nichts anderes unternommen hätte, früher, als
es noch nicht zu spät war, doch er erwähnte nichts dergleichen, so als hätte
er es vergessen. Ich war ihm dankbar für dieses Vergessen. Mehr als auf mich
selbst sah ich auf ihn, an seiner Meinung war mir besonders gelegen, weil er
alles weiß – er hätte mich auch schlimm treffen können.
Die Verwunderung, die aus seinem
Blick sprach, war mir auch aus anderem Grunde teuer. Vielleicht hatte ich
niemals so wie in dieser Stunde gespürt, wie sehr unsere Haltung, wie sehr
unsere Entschlüsse von den Menschen um uns herum abhängen. Hätten sich Hasan
und Hafiz Muhamed verärgert, wütend gezeigt, hätten sie meine Ansprache als
eine Narrheit verurteilt, so wäre auch ich unruhig geworden. So aber nahm ihr
Einverständnis die Last des Zweifels von mir, und ich wußte, ich hatte getan,
was ich tun mußte, hatte etwas Gutes getan. Vielleicht etwas Unvernünftiges,
aber etwas Notwendiges. Hasan wunderte sich, er hatte geglaubt, ich sei ein
Feigling. Nun sah er, ich bin es nicht.
Schön ist dieses Gefühl des Stolzes,
es bewahrt uns vor Reue.
Was ich in der Moschee gesagt hatte,
war Leid, Erschütterung, verhaltenes Weinen gewesen, vielleicht auch ein
verhaltener Aufschrei, doch alles hat sich nur auf mich bezogen. Leidvolles
Vor-Augen-Stellen und leidvolle Abwehr. Doch als ich es ausgesprochen hatte,
wurde plötzlich etwas anderes daraus. Wie es auch begonnen hatte, was es auch
gewesen war – es verwandelte sich in eine gemeinsame Last und in Verurteilung.
Und es legte mir, weil es nicht mehr einzig mich betraf, Verpflichtungen auf,
meiner Worte wegen. Das sagte auch Hasan (er berichtete Hafiz Muhamed davon,
und ich hörte es aus dem Hause): wohl nie habe er eine aufrichtigere Klage
und eine schwerere Beschuldigung gehört. Er sei gebannt gewesen, wie auch die
anderen, von der packenden Schlichtheit gewöhnlicher Worte und von der Trauer
eines Menschen, der weint und es ausspricht. Er habe gefühlt, daß wir doch
alle Schuld und Jammer trügen, sagte er.
Wäre es jetzt an mir gewesen, alles
Geschehene und alles, was ich gesagt hatte, zu vergessen? Auch das Wort
verpflichtet, auch das Wort ist Tat, es verpflichtet mich vor den anderen, aber
auch vor mir selbst.
Als ich dann in den Garten
hinaustrat, sprachen sie freilich schon von anderem. Es bekümmerte mich, daß
ich ihre Gedanken nicht länger beschäftigte, aber ganz gleich, was in meiner
Abwesenheit gesagt worden war, wog schwerer als das, was sie in meiner
Gegenwart gesagt hätten.
„Wir sprechen von Hasans
Vater", erklärte Hafiz Muhamed, als ich hinzutrat.
Er schien zu wünschen, daß ich dem
Gespräch keinen anderen Gegenstand aufdrängte. Und ich überlegte mir
großmütig, jeder habe doch seinen eigenen Kummer, und man sollte Gott danken,
daß es so sei.
Hasan sprach wie gewöhnlich: heiter,
spöttisch, leichthin und oberflächlich in allem, im Denken, im Fühlen, im
Verhältnis zu sich selbst und zu anderen. (Ich bedachte nicht, daß er gestern
mit mir gekommen und die ganze Nacht trauernd bei mir geblieben war.) Sein
Vater sei ein wunderlicher Mensch, meinte Hasan, wenn es überhaupt angebracht
sei, das zu sagen, denn jeder sei wunderlich, außer den Farblosen und
Gestaltlosen, die wiederum darin wunderlich seien, daß sie nichts Eigenes
haben, das heißt ihnen eigen sei gerade, daß ihnen nichts Besonderes eigen ist.
Und außer jedem von uns, wenn er an sich selbst denkt, natürlich, denn an das
Ich, an uns selbst gewöhnen wir uns so sehr, daß alles, was sich von uns
unterscheidet, uns wunderlich vorkomme, so daß man sagen könne, wunderlich sei
das, was nicht uns selbst eigen ist. Nun denn, sein Vater sei darum wunderlich, daß er glaubt,
Hasan sei wunderlich, und Hasan wiederum ... und so weiter und immer weiter,
die Verwunderung nehme kein Ende, und vielleicht solle man sich gerade darüber
wundern. Der Unterschied zwischen ihnen beiden bestehe darin, daß der Vater
meine, er, Hasan, habe sich durch seine Lebensart unglücklich gemacht, er
Hasan, wiederum sei überzeugt, daß der Mensch sich auf mancherlei Art unglücklich
machen könne, am wenigstens aber, wenn er tue, was ihn befriedigt und was ihm
keine Schande bereitet, und so stehe nun die Sache: Den Vater macht es
unglücklich, daß der Sohn zufrieden sei, und er würde es für ein Glück halten –
für seines und das der Familie –, wenn er, Hasan in der Tat unglücklich wäre.
„Hast du ihn nach deiner Rückkehr
gesehen?"
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