Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
Vom Netzwerk:

oder weniger. Gib mir Kraft, zu verzeihen. Denn der Verzeihende ist der Größte.
Doch ich weiß, vergessen kann ich nicht.
    Und euch, meine Brüder, bitte ich,
verübelt mir nicht meine Worte, verübelt es mir nicht, wenn sie euch schmerzen
und bekümmern. Und wenn sie meine Schwäche offenbarten. Ich schäme mich nicht
dieser Schwäche vor euch, schämen würde ich mich, wenn es sie nicht gäbe.
    Und jetzt geht nach Hause, und laßt
mich allein mit meinem Unglück. Leichter scheint es mir jetzt, ich habe es mit
euch geteilt."
    Allein zurückgeblieben, allein auf
der ganzen Welt, im starken Licht der Kerzen, im schwärzesten Dunkel, ohne die
geringste Erleichterung gefunden zu haben (die Menschen hatten nur meine Worte
mitgenommen, die Trauer war mir ganz geblieben, unangetastet, schwärzer noch
wegen der enttäuschten Hoffnung, daß sie sich verringern würde), schlug ich mit
der Stirn auf den Boden, obgleich ich wußte, o ja, leider wußte, daß es
vergebens war, und sprach in meiner Verzweiflung die Worte aus der Sure Bakara:
    Unser Gott,
wir suchen deine Vergebung.
    Unser
großer Gott, strafe uns nicht für Vergeßlichkeit oder Sünde.
    Unser großer Gott,
lege uns nicht auf eine Last, die zu schwer für uns ist.
    Unser
großer Gott, verpflichte uns nicht zu dem, was wir nicht tragen und ausführen
können.
    Vergib uns,
erbarme dich und stärke uns.
    Vielleicht vergab er, vielleicht erbarmte er sich –
Stärkung fühlte ich nicht.
    In einer Schwäche, wie ich sie nie
gekannt hatte, fing ich an zu weinen wie ein hilfloses Kind. Alles, was ich
wußte und dachte, bedeutete nichts, gar nichts mehr, die Nacht war schwarz und
drohend außerhalb dieser Mauern, die Welt war schrecklich, ich aber winzig und
schwach. Am besten wäre es, so weiter zu knien, sich in Tränen zu erschöpfen,
sich nie mehr zu erheben. Ich wußte, als wahre Gläubige dürfen wir nicht
schwach und traurig sein, aber das wußte ich umsonst. Schwach war ich und
traurig, und ich fragte mich nicht, ob ich ein wahrer Gläubiger sei oder ein
Mensch, verloren in der tonlosen Einsamkeit der Welt.
    Und dann kam leere Stille. Noch war
in mir ein dumpfe š Grollen, aber es entfernte sich, noch hörte ich in mir
Schreie, aber immer schwächer. Das Gewitter hatte sich ausgetobt und beruhigte
sich von selbst. Vielleicht der Tränen wegen.
    Ich war müde, ich war ein Kranker,
der eben erst aufgestanden ist.
    Ich löschte die Kerzen, nahm ihnen
das Leben, einer nach der anderen, ohne das feierliche Gefühl, mit dem ich sie
entzündet hatte. Vernichtet hatte mich der Kummer, und ich war allein.
    Lange würde
ich im Finstern bleiben, fürchtete ich. Allein.
    Doch als ich auch die letzte Kerze
ausgeblasen, ihr die Seele genommen hatte, verschwand mein Schatten nicht. Er
schwankte schwerfällig an der Wand, im Halbdunkel.
    Ich wandte
mich um.
    An der Tür stand der vergessene
Hasan, eine brennende Kerze in der Hand.
    Er wartete
auf mich, stumm.

9
    Alles, was ihr gegen mich tun könnt, tut es, laßt mich
keinen Augenblick Atem schöpfen.
    Mir zittert noch die Hand, die die Feder hält, als
geschähe das, wovon ich schreibe, zu dieser Stunde, als wäre nicht mehr als ein
Monat seit dem Augenblick vergangen, da mein Leben sich jäh änderte. Ich wüßte
nicht genau zu sagen, was ich alles durchlebte, welches Feuer mich sengte,
eigenes wie fremdes, was ich alles dachte und fühlte, als der Sturm mich niederwarf,
denn aus solcher Ferne mag wohl manches im Nebel des Nichterkennens geblieben
sein, wie im Fieber. Doch ich will der Reihe nach alles erzählen, was mit mir
und was um mich herum geschah. Und was sich in meinem Innern begab, davon werde
ich berichten, so gut ich es eben kann und soweit es mir selbst bewußt sein
wird.
    Am Tage nach meiner Ansprache in der
Moschee, am Abend antworteten sie auf den Schlag.
    Nichts hatte ich geahnt, nichts
gewärtigt, obschon ich mir sagte, daß sie schmutzige Fäden um mich spinnen
würden.
    An diesem Nachmittag kam Hasan in
die Tekieh. Ich hatte den Eindruck, als sähe er mich seit gestern abend mit
anderen Augen an, mit Achtung, staunend, beinahe ungläubig, als hätte er meine
Empörung nicht erwartet. Jetzt, da es geschehen war, nachträglich, fand ich
Gründe für mein Aufbegehren, und ich hielt das Gefühl des bitteren Unrechts,
das mir angetan worden war, in mir wach. Er ist mein Bruder, dachte ich, konnte
ich ihn nicht retten, so kann ich ihn doch beklagen. Ich bangte, Hasan würde
mir vielleicht vorwerfen, daß ich

Weitere Kostenlose Bücher