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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Schon am Festungstor hatte ich
mich vor dem Schmerz und der Reue gefürchtet, die mich morgen überfallen
würden, es konnte geschehen, daß Feuer mich versengte, daß das Leid mich
erstickte, daß unterdrückter Zorn und verschwiegene Trauer mich für immer stumm
machten. Ich mußte sprechen. Auch um dieser Wartenden willen. Wenigstens jetzt
war ich Mensch. Und um seinetwillen, für ihn, den ich nicht hatte beschützen
können. Mochte dies eine Klage, ein Totengebet für den Bruder sein, heute schon
das zweite, aber das erste, das die Menschen hören würden.
    Fürchtete ich mich? Nein. Vor
nichts, nur daß ich bangte, ob ich auch das, was ich vollbringen mußte, gut
vollenden würde. Ich fühlte sogar eine ruhige Bereitschaft zu allem, eine
Bereitschaft, wie sie die Unausweichlichkeit des Handelns mit sich bringt, und
das ehrliche Bekenntnis zu diesem Handeln, und das war stärker als Rache,
stärker als Gerechtigkeit. Nichts konnte ich mehr ausrichten gegen mich
selbst.
    Ich erhob mich und zündete alle
Kerzen an, trug die Flamme von einer zur andern, ich wollte, daß alle mich
sähen, und wollte selbst alle sehen. Damit wir einander im Gedächtnis
behielten.
    Ich wandte mich um, langsam. Keiner
würde gehen, nicht einer. Sie sahen mich an, die Knienden, aufgeregt von meinen
ruhigen Bewegungen und von den Flammen, die an der Stirnseite von einer Wand
zur anderen brannten und kräftigen Wachsgeruch ausströmten.
    „Ihr Söhne Adams!"
    Nie hatte ich sie so genannt.
    Ich hatte nicht gewußt, noch einen
Augenblick vorher nicht gewußt, was ich sagen würde. Alles geschah wie von
selbst. Trauer und Erregung fanden Stimme und Worte.
    „Ihr Söhne Adams! Ich will keine
Predigt sprechen, ich könnte es nicht, auch wenn ich es wollte. Doch ich
glaube, ihr würdet es mir verübeln, wenn ich jetzt, in dieser Stunde, der
schwersten, die ich in meinem Leben kenne, nicht von mir selbst spräche.
Niemals war mir das, was ich sagen würde, wichtiger als heute, obschon ich nichts
erreichen will. Nichts, außer daß ich Teilnahme in euern Augen lesen möchte.
Ich habe euch nicht Brüder genannt, obgleich ihr mir das mehr denn je seid,
vielmehr nenne ich euch Söhne Adams, mich auf das berufend, was in uns allen
gemeinsam ist. Menschen sind wir, und wir denken dasselbe, besonders wenn uns
schwer ums Herz ist. Ihr habt gewartet, habt gewollt, daß wir beieinander
bleiben, daß wir einander in die Augen blicken, trauernd um den Tod eines
unschuldigen Menschen und voll Unruhe über die Missetat. Auch euch geht diese
Missetat an, denn ihr wißt: Wer einen unschuldigen Menschen tötet, der schlägt
alle Menschen. Uns alle hat man unzählige Male gemordet, meine gemordeten
Brüder, doch Entsetzen überfällt uns, wenn es einen trifft, der uns am teuersten
ist.
    Vielleicht sollte ich sie hassen,
aber das kann ich nicht. Ich habe nicht zwei Herzen, eines für den Haß, eines
für die Liebe. Das Herz, das ich habe, weiß jetzt nur von Trauer. Mein Gebet
und meine Buße, mein Leben und mein Tod, all das gehört Gott, dem
Weltenschöpfer. Mein Leid aber gehört mir.
    Hütet die Bande der Verwandtschaft,
heißt uns Allah.
    Ich habe sie nicht genug gehütet, o
Sohn meiner Mutter. Ich hatte nicht die Kraft, das Unglück von dir und von mir
abzuwenden.
    Musa sprach: Mein Gott! Gib mir
einen Helfer von meiner Sippe, Harun meinen Bruder, stärke durch ihn meinen
Rücken. Und mach ihn zum Gefährten in meinem Werk.
    Mein Bruder Harun lebt nicht mehr,
und nur dies kann ich sagen: Mein Gott, stärke durch ihn, den Toten, meinen
Rücken.
    Durch ihn, den Toten, den, der nicht
nach den göttlichen Geboten begraben ist, den seine Nächsten nicht haben
sehen, nicht haben küssen können vor der großen Reise, von der es keine
Rückkehr gibt.
    Ich bin wie Kabil, dem Gott einen
Raben sandte, daß er auf dem Boden scharrte, um ihn zu lehren, wie er den
Körper des toten Bruders begraben solle. Und er sprach: Oh, weh mir, bin ich zu
kraftlos, zu sein wie dieser Rabe und den Körper meines toten Bruders zu
begraben.
    Ich, unglücklicher Kabil, unglücklicher
als der schwarze Rabe.
    Nicht als Lebenden habe ich ihn
gerettet, nicht als Toten gesehen. Jetzt habe ich niemanden außer mir und dir,
mein Gott, und meinem Kummer. Leih mir Kraft, daß ich nicht ermatte im Leid des
Bruders, im Leid des Menschen, und daß mich der Haß nicht vergifte. Ich
wiederhole die Worte Nuhs: Entscheide zwischen mir und ihnen, und richte über
uns.
    Wir leben auf Erden nur einen Tag

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