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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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Auch er schritt über das Gauklerseil zwischen
den beiden Ufern, so gut er es konnte. Manchmal versuchte er auch, gut zu sein.
    Lächelnd, noch in meiner guten Stimmung,
bereit, alles zu verstehen, bereit zur Dankbarkeit, fragte ich ihn:
    „Sag mir ehrlich: Hast du gewußt,
was die Frau des Kadi wollte, und hast du deshalb mich geschickt?"
    „Was für eine Frau?"
    „Einen einzigen Kadi gibt's in der
Stadt. Und eine einzige Frau des Kadi. Hasans Schwester."
    Er fuhr auf, beinahe angeekelt. Ich
war es nicht gewohnt, ihn so zu sehen.
    „Nenn die beiden nicht zusammen, ich
bitte dich!"
    „Also hast du's gewußt. Und du hast
dich nicht einmischen wollen. Ist es so?"
    „Laß den Unrat, um des Himmels
willen! Ich wollte dir helfen, deshalb bin ich nicht gegangen. Aber sprich
jetzt nicht von ihnen."
    „Warum?"
    „Hast du denn nichts erfahren?"
    „Nein."
    „Dann muß ich es dir sagen."
    An der belegten Stimme, an der Mühe,
mit der er sich zwang, mir ins Gesicht zu blicken, an den unruhigen
Händen, die alle Augenblicke in die tiefen Taschen gesteckt und gleich
wieder herausgezogen wurden, an allem, was ich an ihm nie gesehen hatte, so
daß er wie ein anderer Mensch wirkte, an der Angst, die mich erfaßte,
spürte ich, daß er mir etwas Schweres zu sagen hatte.
    Ich fragte, mich gleichsam kopfüber
in schwarzes Wasser stürzend:
    „Von meinem Bruder?"
    „Ja, von deinem Bruder."
    „Lebt er?"
    „Sie haben ihn umgebracht. Vor drei
Tagen."
    Mehr konnte er nicht sagen, und ich
fragte auch nicht weiter.
    Ich blickte ihn an; er weinte, den
Mund v erziehend, erschreckend häßlich. Ich weiß, ich nahm das wahr,
und ich weiß, ich wunderte mich, daß er weinte. Ich weinte nicht. Nicht
einmal schwer war mir zumute. Seine Worte waren aufgeflammt wie ein
blendender Blitz, und dann war Stille eingetreten.
    Das Wasser murmelte gemessen.
    Ich hörte einen Vogel im Gezweig.
    Also vorbei, dachte ich.
    Und fühlte Erleichterung: vorbei.
    „Also doch", sagte ich, „also doch.
Hoch über dem Wasser, auf dem die goldene Sonne flimmert."
    „Beruhige dich", sprach Hafiz
Muhamed erschrocken, weil er wohl glaubte, ich hätte den Verstand
verloren. „Beruhige dich. Wir werden für ihn beten."
    „Ja. Einzig das können wir."
    Nicht einmal Schmerz empfand ich.
Als hätte sich in mir etwas abgelöst und wäre nun nicht mehr da,
das war alles. Ganz ungewöhnlich war es, daß es nun fehlte, ganz
unwahrscheinlich, ganz unmöglich; aber es hatte mehr geschmerzt, als es noch
da war.
    Auch Mustafa fand sich ein, gewiß
hatte ihm Hafiz Muhamed mein Unglück erklärt, Mustafa brachte etwas in einer
Kupferschüssel, er floß über von Mitleid und war noch ungeschickter als sonst.
    Er wies auf die Schüssel. „Du mußt
etwas essen", sagte er und gab sich Mühe, nicht zu schreien. „Seit gestern
hast du keinen Bissen gegessen."
    Er setzte die Schüssel vor mich hin,
wie Arznei, als Zeichen seiner behutsamen Teilnahme, ich aß, ich weiß nicht
was, die beiden schauten zu, der eine neben mir, der andere vor mir, wie eine
unsichere Wache gegen das Leid.
    Und da, zwischen zwei Bissen, begann
der Teil, der sich abgelöst hatte, zu schmerzen.
    Ich hielt inne, entsetzt, und
langsam, ganz langsam stand ich auf.
    „Wohin willst du?" fragte Hafiz
Muhamed.
    „Ich weiß nicht. Ich weiß nicht,
wohin ich will."
    „Geh nirgendwohin. Wenigstens jetzt
nicht. Bleib hier."
    „Ich kann nicht bleiben."
    „Geh in dein Zimmer. Weine, wenn du
kannst."
    „Ich kann nicht weinen."
    Allmählich drang mir ins Bewußtsein,
was geschehen war, und der Schmerz umspülte mich wie stilles Wasser, das
ständig steigt, und als es mir bis zu den Armen reichte, dachte ich beunruhigt
an die Furcht vor der Verzweiflung, die mich morgen ergreifen würde.
    Dann aber fühlte ich ein jähes
Aufwallen des Zorns, mir war, als stünde mein Bruder als Schuldiger vor mir. So
mußte es ja mit dir kommen, zischte in mir eine weinerliche Wut. Was hast du
gesucht? Was hast du gewollt? Ins Unglück hast du uns gestürzt, dummer Kerl!
Warum?
    Dann ging auch das vorüber, es
dauerte nur einen Augenblick, aber es brachte mich in Bewegung.
    Vom Berg herunter, aus der
Zigeunervorstadt, dröhnte ohrenbetäubend eine Trommel, in kurzen Abständen, und
eine Zurna pfiff unaufhörlich, ohne Atempause, seit dem Morgen schon, seit
gestern abend, seit eh und je, der schreckliche, wahnwitzige Taumel des
Georgstages war über die Stadt hereingebrochen wie ein großer Trotz, wie eine
Drohung. Ich lauschte

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