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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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anders, als
ich es sonst über den Toten sprach, die auf der Bahre lagen. Es betraf nur mich
und ihn.
    Ich Sünder bitte dich, Bruder,
verzeih mir – spät kommt meine Liebe, ich hatte geglaubt, sie sei da, als sie
gebraucht wurde, jetzt erwacht sie, da sie keinem helfen kann, auch nicht mir.
Und ich weiß nicht mehr, ist es Liebe oder vergebliches Rückwärtswenden. Nur
mich hattest du, außer den Grabesmüden zu Hause, jetzt haben wir keinen mehr,
weder du noch ich, du hattest mich verloren, ehe ich dich verlor, oder
vielleicht hattest du mich nicht verloren, vielleicht glaubtest du, ich stünde
vor diesem eisenbeschlagenen Tor, so wie du meinetwegen hier gestanden wärest,
vielleicht hofftest du bis zum letzten Augenblick, ich würde dir helfen, und
dein Glück wäre es gewesen, hättest du mir so vertraut, denn du wärest dann
freigeblieben von der Furcht vor der letzten Einsamkeit, da alle uns verlassen.
Wenn du aber alles wußtest, so möge Gott mir helfen.
    „Was
murmelst du da?" fragte der Mann hinter dem Tor.
    „Ich
spreche ein Gebet für die Toten."
    „Sprich du
ein Gebet für die Lebenden, sie haben es schwerer."
    „Viel hast
du gesehen, man muß dir glauben."
    „Was
kümmert's mich, ob du's glaubst."
    „Wie viele
Menschen sind durch dieses Tor gegangen?"
    „Mehr
herein als hinaus. Und dabei sind alle vollzählig."
    „Wo sind
sie vollzählig?"
    „Droben,
auf dem Friedhof."
    „Böse Späße
machst du, Freund."
    „Die droben machen die Späße. Und du
machst Späße. Jetzt aber hau ab."
    „Mußt du
denn grob sein, wenn du an dieser Stelle bist?"
    „Mußt du denn dumm sein, wenn du an
dieser Stelle bist? Komm 'rein, setz den Fuß über die Schwelle, bloß eine
Handbreit Raum, und gleich wirst du anders reden."
    Eine Handbreit Raum, nicht mehr, und
gleich würde alles anders sein.
    Alle Menschen müßte man
hierherführen, damit sie diese Handbreit Raum sähen, damit sie es hassen
lernten. Oder nein, verbergen muß man es vor den Menschen, darf sie niemals
hierherführen, bevor man sie herbrächte, damit sie nicht jedweden Gedanken,
den sie haben, verstecken, damit sie sich nicht jedes Wort, das sie sprechen,
verekeln.
    Ich kehrte um, gesenkten Blickes,
suchte Fußspuren auf dem holprigen Pflaster, wo auch in den Spalten kein Gras
wuchs, suchte die Stelle, wo er zum letzten Male außerhalb der Festungsmauer
stand. Keine Spur gab es mehr von ihm auf der Welt. Was blieb, lag einzig in
mir.
    Im Nacken spürte ich, wie mich das
Tor stach, der Spalt mit den steinernen Augen, verzehren würde es mich,
gierig.
    An der Grenzmarke des Todes hatte
ich gestanden, an der Tür des Schicksals, und nichts erfahren. Nur wer hineingeht,
erfährt, aber der kann nichts berichten.
    Die Menschen könnten darauf kommen,
daß dies das einzige Tor des Todes werde und daß man uns alle hineinschicke,
der Reihe nach, in Scharen – warum auf den Zufall und die vom Schicksal
bestimmte Stunde warten.
    Dieser wahnsinnige Gedanke aber war
nichts als Abwehr gegen das unaussprechliche Entsetzen, das mich gepackt
hatte, ein Versuch, in der gemeinsamen Not die eigene unsichtbar zu machen.
Ich war ausgegangen, eine letzte Spur von dem Getöteten zu suchen, und ich
hatte ihm das Trauergeleit gegeben – ohne ihn, ohne sonst jemanden, einzig
ich, dabei hatte ich nicht die Absicht gehabt, das zu tun, und fragte mich,
wozu es nötig war, daß ich gerade an diesen Ort kam, seiner als eines Toten zu
gedenken. Vielleicht deswegen, weil das der jammervollste Ort auf der Welt und
weil das Totengedenken hier am nötigsten war. Vielleicht deswegen, weil es der
schrecklichste Ort auf der Welt war und weil man die Angst meistern mußte, um
hier der Ermordeten zu gedenken. Oder deswegen, weil es der abstoßendste Ort
der Welt war, und seiner selbst gedenken als dessen, der man war, konnte hier
den Anfang schauernder Einsicht bedeuten. Ich hatte sie nicht gesucht, aber sie
kam; ich brauchte sie nicht, aber ich konnte nicht anders.
    Wo die Čaršija begann, standen
zehn, zwölf Männer, warteten, als kehrte ich aus einer anderen Welt zurück. Sie
sahen mich an, unbeweglich, ihre Augen standen still, doch sie ließen nicht von
mir ab, sie luden mir Last auf, viele drückten auf meine Stirn, hier wollten
sie ihr Werk tun, gleich würde ich taumeln. Ich wußte nicht, warum sie gekommen
waren, wußte nicht, was ich tun sollte.
    Als ich aus der Festungsgasse trat,
wie aus der Nacht (wieder war da der dumpfe Paukenschlag, droben hatte ich ihn
nicht

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