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Der Derwisch und der Tod

Der Derwisch und der Tod

Titel: Der Derwisch und der Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meša Selimović
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und zitterte, irgendwo dröhnte eine mächtige Pauke,
schlug Alarm, rief die Verschwundenen, alle toten Brüder über und unter der
Erde. Einer war am Leben geblieben und rief.
    Er rief umsonst.
    In mir fehlten noch die Gedanken,
die Tränen, das Ziel. Nirgendwohin mußte ich gehen, dennoch ging ich, irgendwo
war vom toten Harun eine Spur geblieben.
    Unter der kleinen Steinbrücke
strömte mein Fluß, jenseits war totes Land. Niemals hatte ich die Brücke
überquert, nur mit dem Blick, hier endete die Čaršija, endete die Stadt,
das Leben, und es begann der kurze Weg zur Festung.
    Mein Bruder war den Weg gegangen,
dorthin, und er war nicht zurückgekehrt.
    Seither hatte ich oft in Gedanken
die Strecke von der Steinbrücke bis zu dem schweren Eichentor zurückgelegt, das
die alten, grauen Mauern unterbricht. In diesen vorgestellten Unternehmungen
wandelte ich wie im Traume, der Weg war immer leer, freigemacht für meinen auch
in Gedanken qualvollen Gang, damit ich leichter vorankäme. Das Tor war das
große Ziel, einzig zu ihm führte der Weg von überallher, das Tor war Sinn des
Schicksals, Triumphbogen des Todes. Ich sah es in Gedanken, im Traum, in
Ängsten, fühlte sein düsteres Locken und seinen unstillbaren Hunger. In jenen
Gedanken drehte ich mich dann um und flüchtete, das Tor aber sah mir in den
Nacken, lockte, wartete. Als Finsternis, als Schlund, als Lösung. Hinter ihr
ein Geheimnis oder nichts. Hier beginnen und enden die Fragen, für die Lebenden
beginnen sie, für die Toten enden sie.
    Zum erstenmal schritt ich wirklich
auf der Straße meiner langen nächtlichen Qualen, längst schon bangend vor der
Begegnung mit ihr. In der Tat war sie leer, wie ich es mir vorgestellt und
gewünscht hatte, damals, jetzt war es mir gleichgültig, jetzt wäre es mir sogar
lieber gewesen, ich hätte sie nicht so öde vorgefunden – wie einen Friedhof.
Sie sah mich finster, mürrisch, boshaft an, als wollte sie sagen: Bist also
doch gekommen! Er raubte alle Sicherheit, dieser Durchgang ins Nichts, tötete
auch das klägliche bißchen Tapferkeit, das sich „es ist mir gleichgültig"
nannte. Ich wünschte mir, nichts zu sehen, damit ich die Unruhe und das innere Zittern
ein wenig dämpfte, aber ich sah alles, die Feindschaft des leeren Weges ebenso
wie das schreckliche Tor vor dem Geheimnis und die Augen des versteckten
Wächters in der kleinen Öffnung des Tores. Diese Augen hatte ich früher, in der
Vorstellung, nicht gesehen, als ich hierher aufbrach, gab es für mich nur das
Tor und den Weg zu ihm, das Seil zum anderen Ufer.
    „Was willst du?" fragte der
Wächter.
    „Ist schon jemals einer allein
hierhergekommen?"
    „Jedenfalls du. Hast du jemanden in
der Festung?"
    „Ja, meinen Bruder. Er ist
eingesperrt."
    „Was willst du?"
    „Kann ich ihn sehen?"
    „Du wirst ihn sehen, wenn sie auch
dich einsperren."
    „Kann ich ihm etwas bringen?"
    „Ja. Ich werd's ihm geben."
    Wie ein Narr versuchte ich, die Zeit
zurückzudrehen, den Getöteten lebendig zu machen, er ist noch nicht getötet,
eben erst habe ich erfahren, er sei eingesperrt, und gleich bin ich gekommen,
mich nach ihm zu erkundigen, das ist Menschenpflicht, Bruderpflicht, da ist
keine Angst, keine Scham, noch gibt es Hoffnung, sie werden ihn bald
freilassen, er wird Nachricht von mir erhalten, wird
wissen, daß er nicht allein, nicht verlassen ist, daß vor dem Tor sein eigenes
Fleisch und Blut steht. Daß kein Tor, keine Wächter, keine Rücksichten den
Bruder draußen am Kommen gehindert haben, er ist gekommen, ich bin gekommen,
fünfzehn Jahre jünger ist er als ich, immer habe ich mich um ihn gesorgt, habe
ihn auch in die Stadt gebracht, he, Menschen, wie könnt ich ihn da verlassen,
wenn es ihm am schwersten ist, aufheitern wird sich das klagende, trauernde
Herz, wenn er erfährt, daß ich nach ihm gefragt habe. Keinen Verwandten hat er
hier außer mir, und da sollte auch ich ihn im Stich lassen, warum? Im Namen
welchen Gebotes? Seht mich meinetwegen alle scheel an, erzürnt euch, schüttelt
den Kopf, es ist mir gleich, hier stehe ich, bekenne mich zu dem Band, das mir
das engste ist, kreuzigt mich, wenn ihr wollt, für diese Liebe – kann man denn
gegen sie handeln? Ich bin gekommen, Bruder, du bist nicht allein.
    Zu spät. Nach allem, was geschehen
war, und allem, was nicht geschehen war, konnte ich nur noch ein Totengebet für
ihn sprechen, in der Hoffnung, es werde ihn erreichen; er würde es brauchen,
vielleicht.
    Bitter war dieses Gebet,

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