Der Dieb der Finsternis
ihre Taschenlampe wieder in die Tasche, umfasste den grauen Gummischlauch fest mit den Händen und begann zu klettern. Sie war dankbar für die angeraute Oberfläche des Gummis, denn dadurch hatten ihre nassen Hände und Füße einen besseren Halt. Als sie sich wieder auf dem Gelände des Topkapi-Palasts befand, sah sie sich vorsichtig um und kletterte dann aus dem Loch. Sie erblickte die Gartengeräte, die neben dem Bagger lagen, schnappte sich eine Harke und eine Hacke und ließ sich wieder nach unten in die Zisterne gleiten.
Rasch gelangte sie zurück zu dem Rohr, denn jetzt halfen ihr die beiden Geräte, gegen die Strömung anzukämpfen. Beide Werkzeuge waren etwa anderthalb Meter lang und hatten dicke Holzgriffe. Die Harke hatte am Ende die Form eines großen »T«, und die Hacke war ein perfekter Haken. Beide waren ideal, um durch das Rohr gesteckt zu werden und den Rand auf der anderen Seite zu fassen.
KC tauchte unter und stieß Hacke und Harke ins Rohr hinein, wobei die Strömung gegen sie arbeitete. Sie drehte jedes der Geräte so lange, bis sie spürte, dass sie fest am Rand auf der anderen Seite klemmten. Ohne sich die Mühe zu machen, vorher noch einmal tief Luft zu holen, begann sie, sich an den Geräten durch das Rohr zu ziehen. Die Strömung ließ ihren Körper zittern, peitschte ihr blondes Haar nach hinten, dröhnte in ihren Ohren. Sie konnte spüren, wie die Rolle und die Tasche auf ihrem Rücken flatterten, weil sie sich loszureißen versuchten.
Innerhalb weniger Sekunden war sie durch, schwamm schnell zur Seite, tauchte auf und hielt die Gartengeräte dabei fest in den Händen. Dankbar füllte sie ihre Lunge mit Luft, während in ihren Ohren immer noch der Lärm des Wasserfalls toste. Der Raum erstrahlte in einem schwachen orangefarbenen Licht, das von Michaels allmählich verglühenden Leuchtstäben stammte.
Im Vorraum der Zisterne toste das Wasser. Während KC es auf der anderen Seite der Mauer mit einer starken Strömung zu tun gehabt hatte, war das, was sie hier sah, eine Art Tsunami, der aus der Wand auf der anderen Seite der Höhle stürzte. Wasser, das unterhalb der Wasseroberfläche hereinströmte, schoss explosionsartig mindestens drei Meter in die Höhe und wie ein Geysir zu den Seiten weg. Der Wasserdruck war ungeheuer.
KC sah sich in dem kleineren Vorraum um. Das Wasser reichte ihr bereits bis zum Kinn. Wenn der Zufluss nicht aufhörte, würde der Raum bis zum Morgen unter Wasser stehen.
Und dann sah sie das Loch in der Seitenwand. Sie kämpfte gegen die Wogen an und kletterte auf den Felsvorsprung. Die Ränder des einen Meter breiten Loches waren schwarz von der Explosion. KC zog ihre Taschenlampe hervor, leuchtete in das Loch hinein und sah den Altar, spürte die Ruhe, die der Raum verströmte, und ließ den Blick über die verschiedenen religiösen Symbole für Frieden und Hoffnung schweifen. Im nächsten Moment sah sie die zertrümmerte Wand. Bunte Mosaikfliesen lagen auf dem Fußboden. Darüber befanden sich drei Löcher von unterschiedlicher Größe. Was immer man dort versteckt hatte, war nicht mehr da. Sie betete, dass Michael in diesem Raum gewesen war und nicht Iblis.
»Michael«, rief sie in die Kapelle hinein und hoffte, er würde antworten, doch es blieb still. Noch einmal rief sie seinen Namen, dieses Mal lauter, bekam aber wieder keine Antwort. Er war also nicht in der Kapelle, und er war auch nicht in dem großen, mit Wasser gefüllten Vorraum oder im Hauptbereich der Zisterne. Als KC zu dem Geysir blickte, der aus dem Rohr unter der Wasseroberfläche schoss, wusste sie, dass sie es niemals schaffen würde, dort hindurchzukommen. Selbst wenn es ihr gelang, sich dem Rohr zu nähern, würde die Gewalt des Wasserdrucks sie zerquetschen.
Wieder schaute sie in die Kapelle, und Entsetzen überkam sie. Als sie sich dann wieder umdrehte und auf das Chaos aus explodierendem Wasser blickte, gab es für sie keinen Zweifel mehr, wo Michael war.
Furcht und Zorn auf Iblis packten sie; Wut auf ihre Mutter, weil sie sich das Leben genommen hatte; Wut auf ihren Vater, weil er sie verlassen hatte, als sie noch Kinder gewesen waren, und Zorn auf die Welt, weil sie so grausam war. Ohne die Karte würden Simon und ihre Schwester sterben. KC rechnete jetzt mit dem Schlimmsten, was Michael betraf. Er war ihretwegen hier unten, riskierte selbstlos sein Leben, nur um …
Über den Lärm der donnernden Kaskaden hinweg rief sie lauter als je zuvor, schrie ihren Zorn in die Welt hinaus,
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