Der Dieb der Finsternis
auf den Wagen. »Habt euren Spaß damit.«
Die Halbstarken schauten einander verwirrt an und ließen dann misstrauisch die Blicke schweifen, als witterten sie eine Falle. Andererseits wollten sie nicht, dass Michael es sich wieder anders überlegte, also sprangen sie in den Wagen, der mit laufendem Motor dastand, und jagten davon.
Michael rannte die Straße hinauf.
»Warum hast du das getan?«, fragte KC, als sie ihn einholte und neben ihm her rannte, wobei ihr die Lederrolle bei jedem Schritt gegen den Rücken schlug.
Sirenen heulten in der Nacht. Die drei Polizeiwagen, deren Blaulicht den nicht gerade freundlichen Stadtteil erhellte, jagten dem 88er Buick hinterher. Die Sirenen schienen inzwischen aus sämtlichen Richtungen zu kommen. Einige waren vor ihnen, andere hinter ihnen. Viele schlossen sich der Verfolgungsjagd gerade erst an.
Michael wurde nicht langsamer. Er rannte weiter und blickte zwischendurch immer wieder auf KC. Bei ihren bisherigen Einbrüchen und Diebstählen war sie noch nie in einer Situation gewesen, in der Menschenleben an einem seidenen Faden hingen. Mögliche Konsequenzen hatte immer nur sie selbst zu tragen gehabt, niemand sonst. Aber diesmal war es anders. Wenn sie jetzt versagte, wenn man sie schnappte, war das gleichbedeutend mit Cindys und Simons Tod. Das Überleben der beiden hing davon ab, dass sie und Michael ihre Verfolger abschüttelten.
Unvermittelt blieb Michael vor einem unscheinbaren weißen Haus stehen, das sich in der Mitte einer mit Kopfsteinpflaster belegten Straße befand. Im Erdgeschoss des Hauses befand sich eine heruntergekommene Metzgerei mit einem großen Schaufenster, in dem Pappschilder hingen. In Türkisch waren die Öffnungszeiten und die Sonderangebote aufgelistet.
Gleich neben dem Geschäftseingang war eine fleckige weiße Tür. Michael öffnete sie, führte KC ins Haus und schloss die Tür hinter ihnen. Über schmale Treppenstufen lief Michael die drei Etagen voran. Sie erreichten das Obergeschoss, wo sich vor ihnen ein langer Gang auftat, der zu beiden Seiten offen war, sodass man nach draußen blicken konnte. Michael lief durch den Gang zur letzten Tür auf der linken Seite und drückte die Klinke. Die Tür öffnete sich. Er hielt sie KC offen, folgte ihr dann und verriegelte die Tür hinter ihnen.
Sie standen in einem dunklen Raum, mit pochendem Herzen und keuchender Lunge, während draußen das Heulen der Sirenen allmählich verstummte. Langsam gewöhnten ihre Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse. Die Lichter der Stadt drangen durch die schmalen Ritzen zwischen den Lamellen der Fensterläden in ein Zimmer, in dem Weiß dominierte: die Wände und die Fußböden waren weiß, ebenso die Möbel und die Laken. Das Zimmer hatte keinerlei Ambiente. Es gab weder Fotos noch Bilder an den nackten Wänden. Der Raum war kaum größer als ein Hotelzimmer. Der Sitzbereich war zugleich der Schlafbereich. Außerdem gab es eine winzige Küche mit Durchreiche und ein noch winzigeres Badezimmer. Vor dem Schlafbereich befand sich ein Balkon, der einen dramatischen Blick über das alte Istanbul bot.
KC rannte zum Fenster und blickte zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch nach draußen.
»Es ist alles okay«, sagte Michael.
»Nein, sie werden uns finden.«
»Wir sind in Sicherheit.«
»Woher willst du das wissen?«
»Das hier ist ein geheimer Unterschlupf.«
Fassungslos sah KC ihn an. »Wie konntest du denn wissen, dass wir so etwas brauchen?«
»Ich werde häufiger gejagt und habe damit gerechnet, dass es dieses Mal nicht anders sein wird.«
»Und du bist dir absolut sicher?« KC schaute wieder nach unten auf die leeren Straßen.
Michael legte seine Hand auf ihre Schulter und drehte sie zu sich um. »Ich verspreche es dir.«
»Und wenn die Polizei kommt?«
Michael schüttelte den Kopf und rieb ihr sanft über die Wange. »Ich verspreche es dir.«
KC erkannte immer deutlicher, dass sie Michael etwas bedeutete. Er sorgte für sie, und das hatte seit ihrer Kindheit keiner mehr für sie getan. Sie hatte nie einen Freund gehabt, nie einen Ehemann. Niemand hatte sie je beschützt; niemand hatte ihr je versichert, dass das Leben auch nach schweren Schicksalsschlägen weitergeht.
Unvermittelt überkam sie Reue. Sie bereute, ihr eigenes Leben einer Schwester geopfert zu haben, die sterben würde – trotz allem, was sie bisher getan hatte, um sie zu schützen. KC hatte keine Kinder, keinen Partner, mit dem sie ihr Leben teilte, keinen Verehrer,
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