Der Dieb der Finsternis
angehört. Wo sie herkam, wohin sie führte, welche Geheimnisse sie offenbaren würde. Iblis hatte die Trugschlüsse ihres Lebens aufgedeckt. Sie kannte jetzt die Wahrheit, wusste alles über KC, über den Vater, den sie niemals kennengelernt hatte, und warum ihre Mutter gewollt hatte, dass sie seinem Begräbnis beiwohnten. Iblis hatte ihr auch die Wahrheit über sich selbst erzählt und darüber, wie er KC alles beigebracht hatte, was sie über den Umgang mit der Unterwelt wusste. Iblis hatte ihr offenbart, wie viele Geheimnisse es gab auf dieser Welt.
Cindy schaute auf Simon, der bewusstlos dalag, und fragte sich, wie viel er wusste und welche Rolle er bei der ganzen Sache spielte. Sie hatten vor der Entführung nur wenig miteinander gesprochen, und obwohl er ihr anfangs kalt und gleichgültig vorgekommen war, hatte sie erkennen müssen, dass der Schein trog: Simon war bloß ein sehr konzentrierter Mann, der sich nicht ablenken ließ. Während ihrer kurzen Gespräche in der Limousine und im Hotel, als er sich so fürsorglich gezeigt hatte, hatte Cindy Zuneigung zu ihm entwickelt.
»Simon«, sagte sie nun, als sie vor seine Pritsche trat und sich über ihn beugte. Keine Antwort. Sie kontrollierte seinen Puls; er war flach, aber deutlich zu spüren. Sie hoffte, dass es ein kluger Entschluss gewesen war, die Infusion von seinem Arm zu nehmen, denn obwohl sie ihn unnötig ruhig stellte, versorgte sie ihn mit lebenswichtiger Flüssigkeit.
Simon drehte sich und blickte Cindy durch halbgeöffnete Lider an. »Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst«, sagte sie, »aber deine Freunde sind hier.«
»Wurde auch langsam Zeit.« Simon nickte, schloss die Augen und schlief wieder ein.
»Es wird alles gut«, flüsterte Cindy, beruhigte damit aber mehr sich selbst als Simon.
***
Michael kniete auf dem dicken Perserteppich. Seine Tasche mit den Handwerkszeugen lag offen neben ihm auf dem Boden. Er hatte das Einstellrad, in das man die Zahlenkombination eingab, vom Zentralzylinder der Tresortür entfernt und legte es hinter sich auf den Fußboden. Nun befestigte er eine kleine Wählscheibe – sie sah aus wie ein Einstellrad im Miniaturformat – an der Spindel, die aus der Tür ragte. Um die Spindel herum waren vier gut einen Zentimeter große Löcher, die man dazu benutzte, die Tür während der Installation festzuhalten – ein Hilfsmittel, das in den Dreißigerjahren aus der Mode gekommen war. Michael war froh, dass er sich dadurch die ermüdende und mühsame Arbeit ersparen konnte, die Löcher erst bohren zu müssen, wozu er in der Vergangenheit manchmal gezwungen gewesen war.
Er steckte ein dünnes Instrument, das über einen flexiblen Hals verfügte, in das obere linke Loch und drückte sich ein Monokular vors Auge. Das kleine, lupenartige Gerät aus Glasfaser verfügte über eine eigene Lichtquelle, sodass die inneren Mechanismen der Tresortür zu sehen waren. Michael durchsuchte dieses Innenleben, bis er fünf ineinandergreifende Räder entdeckte. Mit jeder Drehung des Miniaturrades würde sich das erste Rad bewegen, bis die erste Ziffer der Zahlenkombination erreicht war; dann würde eine schmale Metallscheibe, die nur auf diesen Augenblick wartete, in eine schmale Einkerbung im ersten Rad fallen und es in das zweite Rad greifen lassen. Dann wechselte das Drehrad die Richtung und transportierte dieses Scheibchen und das Rädchen, bis die zweite Zahl der Kombination erreicht war, worauf das zweite Scheibchen in die Einkerbung des drittes Rädchens fallen würde. Erst wenn alle fünf Scheiben in die richtige Position gedreht worden waren, entriegelte sich der Mechanismus, und man konnte die Tür öffnen.
»Wie lange wird das dauern?«, fragte Busch, doch Michael war zu beschäftigt, ihm die Frage zu beantworten.
Er drehte das Mini-Drehrad dreimal nach rechts. Dabei war sein Blick auf das Bild fixiert, das sich ihm durch das Monokular bot. Er hatte vergleichbare Tresortüren schon häufiger geknackt, sowohl bei seiner legalen Arbeit in der Sicherheitsfirma als auch im Zuge seiner illegalen Aktivitäten. Er war froh, dass diese Tür nicht an eine Zeituhr angeschlossen war, wie es bei Banken der Fall war, wo die Zahlenkombination nur zu festgelegten Uhrzeiten funktionierte.
Wie ein Chirurg, der mit einem Laparoskop arbeitet, beobachtete Michael durch das Monokular, wie die erste Metallscheibe in die Einkerbung einrastete. Langsam drehte er das Rädchen zurück, bis die zweite Scheibe in die Metallkerbe klickte. Auf
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