Der Dieb der Finsternis
Dämonen und Teufeln, die vor Zorn und Furcht die Mäuler aufrissen. Unzählige verlorene Seelen krochen über das schwarze Holz: Männer, Frauen und Kinder, die nach Rettung schrien, die ihnen niemals zuteil werden sollte.
Cindy trat verschreckt zurück, als sie in die Augen der Kinder blickte, die in ihrer Furcht erschreckend lebendig wirkten. KC war zwar schockiert, ließ es sich aber nicht anmerken. Sie starrte auf das Mittelstück der Tür, auf die ausgehöhlte Ausbuchtung. Sie war lang und schmal, ein Nichts, das auf ein Etwas wartete, das es ausfüllte, ganz so, als hätte jemand das Herz der Tür mit fachmännischer Hand herausgeschnitten.
Als KC auf die Tür blickte, die mit den Bildnissen des Grauens geschmückt war, begriff sie plötzlich, welchen Sinn der Stab hatte, wo er herkam und wohin er gehörte.
Venue trat vor. Seine Männer machten ihm eilig Platz. Er streckte die Hand aus. Iblis reichte ihm die lederne Transportrolle und trat mehrere Schritte zurück, als gehöre dies zur Zeremonie. Venue öffnete die Klappe der Rolle, griff hinein und zog den sechzig Zentimeter langen Stab heraus. Die mit Juwelen besetzte Stange und die Rubinaugen erwachten im Lichterglanz der Fackelfeuer zum Leben.
Venue stellte sich vor die Tür und hielt den Stab, als hielte er ein neugeborenes Kind in den Armen. Im nächsten Moment steckte er ihn ohne zu zögern in die Einbuchtung der Tür. Er passte perfekt. Zwei schwarze Klemmen klappten über dem Stab zu und brachten ihn in die richtige Position.
Venue trat zurück und begutachtete sein Werk. Die Tür war nun wieder komplett; die beiden finsteren Schlangen mit den aufgerissenen Mäulern waren wieder zu Hause. Die Juwelen schienen im Licht des Feuers zu pulsieren, zu pochen wie ein Herz, das zu neuem Leben erwacht. Alle hielten den Atem an, warteten und fragten sich, was nun geschehen würde. In Erwartung des Unbekannten wurde es totenstill im Raum.
Dann erklang ein seltsames Geräusch, sonor und kehlig, als hätte die Erde zu sprechen begonnen. Die Wachhunde erstarrten und umklammerten ihre Waffen noch fester. Cindy rückte näher an die Männer heran, als könnten diese sie beschützen. Dann ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen, und der Stab brach in der Mitte auseinander, rutschte aus seiner Verankerung und fiel in zwei Teilen auf den Boden, sodass sein Innenleben, das aus undurchsichtigem Harz bestand, plötzlich freilag und jedem im Raum offenbarte, dass es sich um eine Fälschung handelte.
Als Iblis sah, dass der Stab eine Imitation war, wurden seine Augen schwarz vor Wut, und sein Körper begann zu beben. Er drehte sich zu KC um. Sein Gesicht war eine hässliche Maske des Zorns. »Was hast du getan? Was …«
Bevor er weitersprechen konnte, stellte Venue sich zwischen sie. Hinter ihm wirkte Iblis, der augenblicklich verstummte, wie ein Zwerg. Venue schaute KC in die Augen; dann blickte er hinunter auf den zerbrochenen Stab und brach zum allgemeinen Erstaunen in schallendes Gelächter aus.
»Was hast du mit dem echten Stab gemacht?«, brüllte Iblis und versuchte, sich an Venue vorbeizudrängen.
»Lasst uns einen Spaziergang machen«, sagte Venue zu KC und Cindy; dann drehte er sich zu Iblis um. »Geh und sieh dir die anderen Räume an. Um diese Tür hier werde ich mich kümmern. Das bringe ich selbst in Ordnung.«
KC und Cindy folgten Venue, und schweigend stiegen sie wieder die dunkle Wendeltreppe hinauf, gingen zurück durch die mit Fackeln erleuchteten Gänge und vorüber an dem Raum, in dem lautlos die Mönche beteten. Sie gelangten zu einer breiten Holztreppe und stiegen hinauf in die zweite Etage des Tempels. Dort betraten sie ein großes Foyer. Die aus Kiefernstämmen gezimmerten Wände waren mit religiösen Ikonen geschmückt: Mandalas und Madonnen, Abraham und Shiva, Mohammed und Shangdi.
Venue betrat einen Korridor, von dem zu beiden Seiten Türen abgingen. Er öffnete die erste Tür und hielt sie seinen Töchtern auf.
Der kleine Raum war das Privatgemach eines der Mönche. In der Ecke lag eine Futonmatratze; dicke Kissen waren gegen die Wand gelehnt. Es gab ein schlichtes Schreibpult aus Kiefernholz und einen Stuhl. Venue nahm eine Zeitung von dem kleinen Regal über dem Schreibpult und blätterte sie durch, konnte die chinesische Schriftzeichen aber nicht entziffern.
Das Gemach wurde wie alle anderen Räumlichkeiten von kleinen Kerzen erhellt. Mehrere Räucherstäbchen glühten rot; ihr erdbrauner Rauch stieg zur Decke hinauf. Venue
Weitere Kostenlose Bücher