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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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huldigten: Christentum, Judentum, Islam, Zarathustrismus, Hinduismus, Buddhismus. Michael schaute sich die Darstellungen genauer an. Unter den Kunstwerken hingen Texte, die in den verschiedensten Sprachen verfasst waren und Geschichten erzählten. Da waren Zeichnungen, die Mönche zeigten, die in dem offenen Altarraum im Untergeschoss knieten. Bilder von magischen Sonnenaufgängen und mystischen Sonnenuntergängen. Eine Zeichnung zeigte einen bärtigen Mann mit langem Haar, dessen helle Haut sich stark von der dunklen Hautfarbe der Mönche unterschied, die mit ihm im Raum saßen – hier, in diesem Raum. Der ganze Mann strahlte, wie er so dasaß, mit ausgestreckten Armen, nach oben gerichteten Handflächen und einem Heiligenschein.
    Ein indischer Prinz, der ein bodenlanges und farbenprächtiges, allerdings zerrissenes Gewand trug, unterhielt sich im Tempelgarten mit Männern unterschiedlichster Herkunft, während um sie her Vögel flatterten und Tiere spielten.
    Ein hochgewachsener Mann mit langem, weich fallendem, weißem Haar und ebensolchem Bart stand auf einem Berg und umfasste mit den Händen einen langen Stab.
    »Hallo, Michael«, rief eine freundliche Männerstimme.
    Michael drehte sich um.
    Der Mann war mittelgroß, sein dunkles Haar bürstenkurz. Er trug ein weites grünes Seidengewand, das bis zum Boden reichte. Die Ärmel und der Kragen waren mit Gold besetzt. Seine Haut besaß die Farbe von dünnem Tee, seine Gesichtszüge waren eine Mischung sämtlicher asiatischer Kulturen, und seine nackten Füße waren breit und schwielig. Aus seinen Augen sprach Weisheit, die durch ein unfassbar hohes Alter erlangt worden war. Trotzdem zeigte sein Gesicht keine nennenswerten Falten; abgesehen von einer Narbe auf der rechten Wange war die Zeit an der Haut des Mannes spurlos vorübergegangen.
    Michael hatte das Gefühl, als drehe die Erde sich plötzlich viel langsamer, als werde die Zeit von Beschaulichkeit bestimmt und als wäre die Luft erfüllt von stillem Frieden.
    Michael betrachtete den Mann, schaute auf die Skizzen und Gemälde an der Wand, blickte hinaus über das offene Tal und schaute den Mönch dann wieder an.
    »Was ist das für ein Ort?«, fragte Michael mit gedämpfter Stimme.
    »Ein Ort, an dem gebetet wird, an dem Gott gedient und studiert wird. Eine Welt des Gleichgewichts.«
    »Das sehe ich«, erwiderte Michael voller Respekt. »Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine, obwohl ich die Frage wahrscheinlich gar nicht hätte stellen müssen, nicht wahr?«
    Der Mann lächelte. »Dann kennen Sie die Antwort also schon.«
    »Shambhala?«
    »Die Menschen haben sich Namen ausgedacht und Idealvorstellungen entwickelt. Manche kamen der Wahrheit sehr nahe, andere hätten gar nicht weiter von ihr entfernt sein können …« Der Mann lächelte. »Dieser Ort hat keinen Namen, und doch hat er viele.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Spielt es eine Rolle, ob Sie es verstehen? Hinterfragen Sie, warum Sie an Gott glauben? Hat Ihnen irgendjemand jemals einen unbestreitbaren Beweis geliefert, dass Gott existiert?«
    Michaels Schweigen beantwortete die Frage.
    »Und doch sind Sie sich ganz sicher.«
    »Mehr als je zuvor, nachdem ich diesen Ort jetzt gesehen habe.« Michael war in Gedanken verloren. »Sie wissen, dass ich an Gott glaube. Aber mein Gott, der Gott meiner Religion …« Es fiel Michael schwer, seinen Gedanken zum Ende zu führen.
    »Es liegt in der Natur des Menschen, allem einen Namen zu geben«, sagte der Mönch. »Jede Religion ist darauf aus, Gott zu ihrem persönlichen Eigentum und ihren Gott zum Größten überhaupt zu machen.«
    »Und wer hat recht?«
    Der Mönch lächelte. »Alle haben recht.«
    Michael erwiderte das Lächeln, als befänden sie sich in einem Spiel, bei dem es galt, sich philosophischen Herausforderungen zu stellen. Schließlich wies er auf die Darstellungen an der Wand. »Diese Bilder sind wunderschön. Wer sind diese Männer?«
    »Sie stellen wieder eine Frage, deren Antwort Sie bereits kennen.«
    »Ja, aber dieser hier.« Michael zeigte auf den Mann mit dem dunklen Bart und der weißen Haut. »Wie kann das sein?«
    »In seinem Leben gibt es achtzehn Jahre, über die man nichts weiß«, erwiderte der Mönch lächelnd.
    »War er denn hier?«
    »Er hat viele Orte bereist. Ein Mensch, der seine Weisheit mit anderen teilen und von der Welt lernen möchte, reist viel und in ferne Länder.«
    Michael blickte noch eine Weile auf das Bild und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf den Mann in

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