Der Dieb der Finsternis
antwortete nicht.
»Ich wollte nur eben meine Tasche holen«, sagte Simon und wies dabei auf die braune Aktentasche auf dem Esstisch.
Cindy ignorierte Simon, lief zur Treppe, rannte nach oben in ihr Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
11.
B usch stand auf dem Balkon der Orientalischen Suite des Four Season Hotels und blickte hinaus auf das Marmarameer und die Prinzeninseln. Als er sich zur Seite wandte, auf den Bosporus schaute und das Ufer auf der gegenüberliegenden Seite betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er in der einzigen Stadt auf der Welt war, die auf zwei Kontinenten stand, auf einem Verbindungspunkt, an dem verschiedene Welten aufeinandertrafen, einer Metropole mit einer Kulturgeschichte, wie man sie an keinem anderen Ort fand oder gefunden hatte – weder in der Antike noch in der Neuzeit. Diese Welt war so anders als seine Heimatstadt Byram Hills, dass es sich nicht in Worte fassen ließ. Busch befand sich in einer Stadt, die schon lange, bevor die Europäer dieses Fleckchen Erde entdeckt hatten, die Hauptstadt der Welt gewesen war.
Michael kam die breite Treppe aus Mahagoni herunter. Er war frisch geduscht und trug Blue Jeans und einen Blazer von Armani. »Hübsche Aussicht, nicht wahr?«
»Es ist erstaunlich, an welche Orte es mich jedes Mal verschlägt, wenn ich dir den Hals rette.«
»Das Flugzeug ist morgen früh um sechs Uhr startklar.«
»Gut. Jeannie ist schon sauer. Wenn das noch lange so bleibt, wirst du bald auf Dauer einen Hausgenossen haben.«
Michael lächelte. Er vergaß oft, wie einfach es war, lange Reisen zu machen, wenn man keine Bindungen hatte, keine Familie besaß, keine Menschen, die man liebte. Busch hatte noch nie gezögert, Michael zu Hilfe zu eilen, egal, wie weit es ihn von seiner Frau und seinen Kindern wegführte. Er war ein wahrer Freund.
Seit dem Tod seiner Frau hatte Michael vergessen, wie es war, sein Leben für andere Menschen zu führen und die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zum Wohl derer zurückzustellen, die man liebte. Er beneidete Busch um das Leben, das er führte, und hoffte, dass auch er eines Tages eine Bindung haben würde, die ihn hielt.
Es klopfte leise an die Tür, was Michael überraschte. Er schaute auf die Armbanduhr, durchquerte das große Wohnzimmer und öffnete.
KC stürzte ins Zimmer, eilte ohne ein Wort an Michael vorbei zum Fenster und blickte aufs Wasser hinaus.
Busch, der immer noch auf dem Balkon stand, drehte sich zu ihr um. Er sah den kummervollen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Busch und Michael wechselten einen viel sagenden Blick; und dann verließ Busch den Balkon, kam ins Zimmer und ging zur Treppe. »Ich muss jetzt erst mal meinen Astralkörper duschen«, sagte er und verschwand im Schlafzimmer.
Michael schaute auf KC, deren Körper von den Fensterflügeln umrahmt wurde. »Alles in Ordnung?«
KC starrte weiter aufs Wasser. Der Augenblick schien sich endlos zu dehnen.
»Hast du noch einen Platz im Flugzeug frei?«, fragte sie schließlich.
»Ja, sicher«, erwiderte Michael, der die Anspannung in ihrer Stimme hörte.
»Ich mache Schluss«, sagte KC mehr zu sich selbst.
Michael trat langsam auf sie zu, stellte sich hinter sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Was ist passiert?«
»Sie weiß Bescheid. Sie weiß alles.«
Michael wusste, dass KC nur einen Menschen meinen konnte, die einzige Familie, die sie hatte. Und er wusste nur zu gut, wie KC sich fühlte, denn er kannte die Scham und den Zorn, die man empfand, wenn die Menschen, die einen liebten, herausfanden, dass man ein Verbrecher war. »Das tut mit leid.«
»All die Jahre habe ich gelogen, habe mich hinter Illusionen versteckt, indem ich mir selbst eingeredet habe, ich würde niemanden schädigen.«
Beide standen schweigend da und beobachteten die Boote, die sich mit voll gehissten Segeln über den Bosporus zum Marmarameer bewegten.
»Manchmal verletzen wir die Menschen, die wir lieben, weil wir sie schützen wollen. Das liegt zwar nicht in unserer Absicht, aber es passiert trotzdem. Mit der Zeit allerdings …« Michael stockte. »Im Moment hat sie viel zu verdauen. Sie wird aber wieder zu sich kommen.«
»Du hast nicht gesehen, wie sie mich angeschaut hat. Es war nichts als Enttäuschung in ihrem Blick, nichts als Scham. Sie hat mich mit meinem Vater verglichen.«
Als KC sich schließlich umdrehte, konnte Michael sehen, wie sehr sie litt.
»Mein Vater war gewissenlos. Er hat andere Menschen beraubt und getötet, ohne auch nur einen
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