Der Dieb der Finsternis
sich, doch ihr Verstand schrie vor Entsetzen auf. Hysterisch rannte sie durch die Zimmerflucht, fand aber niemanden. Michael und KC blickten einander an, mit blinder Wut in den Augen, die sich rasch in Trauer und Verzweiflung wandelte.
»Wer hat das getan?« Michael sah KC an, als wüsste sie genau, wovon er sprach.
»Ich weiß es nicht.« KC bückte sich und schaute auf die Blutflecken, wobei ihr Atem immer schneller ging. Alle Farbe wich ihr aus dem Gesicht.
Beide ließen den Blick durchs Zimmer schweifen, wobei ihre Sinneswahrnehmungen vor Anspannung schärfer wurden. Und dann sahen sie es beide im gleichen Moment: Der DVD-Player stand offen.
Michael schloss die Lade und drückte die PLAY-Taste des Gerätes. Er schaltete den eins achtzig breiten Plasmafernseher ein und sah im nächsten Moment ein Bild, das Simon zeigte, der bewusstlos auf dem weißen Marmorboden lag, an der gleichen Stelle, an der Michael gerade stand. Die Kamera schwenkte auf das tränenüberströmte Gesicht Cindys; ihr verzweifelter Blick füllte den großen Bildschirm, während ihr stockender Atem aus den Surround-Lautsprechern klang. KC riss die Hand zurück, als sie begriff, dass sie sich auf den gleichen Stuhl stützte, auf dem Cindy Minuten zuvor geweint hatte.
»KC.« Die Stimme wogte durch den Raum; sie war sonor und hatte erstaunlicherweise einen amerikanischen Südstaatenakzent. »Ich bin froh, dass du lebend aus Chiron herausgekommen bist. Ich hatte sogar Geld darauf gewettet, dass du fliehen würdest. Beeindruckend. Dein Playboy-Liebhaber mit dem schicken Flieger.«
Die Kamera schwenkte durchs Zimmer und zeigte den Kameramann. Sein Gesicht hatte eine braune Hautfarbe und kindliche Züge, und seine Augen zeigten ein unnatürliches, geisterhaftes Blau; die Brauen waren dicht und schwarz. Die Kamera blieb auf ihm ruhen. Im nächsten Moment legte sich ein Lächeln auf die Lippen des Mannes. Es war ein aufgesetztes Lächeln ohne jede Wärme, und die Augen spiegelten nichts von dem wider, was das Gesicht zu vermitteln versuchte. Endlich schwenkte die Kamera wieder zurück und zeigte in einem Weitwinkel Simon und Cindy.
Der Mann trat ins Bild und blickte auf Cindy, die weinend und zitternd auf ihrem Stuhl kauerte. »Sie ist ja schon eine richtige Frau. Sie ist wunderschön, KC, und wenn ich richtig informiert bin, außerdem erfolgreich und sehr gebildet. Da darfst du wirklich stolz sein. Deine Mutter hätte das nicht mal halb so gut hingekriegt wie du.
Ich hasse mich selbst für das, was ich hier tue, aber es geht leider nicht anders.« Der Mann starrte Cindy immer noch an. Dann streckte er die Hand aus und strich ihr leicht über das kastanienbraune Haar. »Nur sind wir im Leben manchmal gezwungen, Dinge zu tun, die mancher für widerwärtig halten würde, für unmoralisch, sogar für kriminell. Ich bin überzeugt, dass du es besser verstehst als jeder andere.
Du wirst Selims Stab stehlen, den Merkurstab, und zwar genau, wie du und Simon es geplant habt, nur mit dem einen Unterschied, dass du es allein tun wirst.«
»Merkurstab?« Verwirrt sah Michael KC an, doch KCs Blicke ruhten weiterhin auf dem Bild ihrer weinenden Schwester.
»Das mit der Karte kannst du vergessen«, fuhr der Mann fort. »Sie gehört mir. Sie hat immer mir gehört. Meine Herausforderung, meine Landkarte. Mein persönlicher kleiner Leistungswettstreit.« Die Stimme kam über den Äther wie die eines Erzählers. Der Mann nahm die Hand von Cindys Kopf. Plötzlich schaute er intensiv in die Kamera, als blicke er aus dem Fernseher heraus geradewegs in KCs Augen. »Ich möchte, dass eines ganz klar ist: Halt dich von der Landkarte fern. Die zu stehlen ist mein Ding.«
Dann wurde der Mann sichtlich lockerer. Er lächelte wieder sein aufgesetztes Lächeln. »Wer hätte gedacht, dass wir zwei noch einmal zusammenarbeiten würden? Als Partner.« Die sonore Stimme ließ den Raum förmlich vibrieren. »Du wirst mir den Stab des Sultans liefern. Am Freitag um dreizehn Uhr, vor der Blauen Moschee.«
Der Mann ging zu Simon und kauerte sich neben die Gestalt auf den Boden. Für einen Moment schaute er auf die kleine Blutlache, die aus seinem Kopf gesickert war. »Ich werde seine Wunden notdürftig versorgen, mehr kann ich nicht tun. Er hat ziemlich viel Blut verloren, wie du sicher sehen kannst. Man kann nur hoffen, dass es sich nicht entzündet. Wenn doch, würde ich sagen, dass er ohne Behandlung drei, höchstens vier Tage überleben kann.«
Der Mann ging zurück zu
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