Der Dieb der Finsternis
Jungen aus Kentucky. Er war schmächtig und hatte pechschwarzes Haar; sein Milchgesicht verlieh ihm ein nahezu weibliches Aussehen. Er lief schnell und mit hölzern wirkenden Schritten, und er hatte eine unnatürlich sonore Stimme für einen Teenager.
Als Chris dreizehn war, zogen sie nach Brooklyn, New York, wo sein Vater auf der Belmont-Rennbahn arbeitete. Zu dieser Zeit begannen die Dinge außer Kontrolle zu geraten. Chris war der Außenseiter mit dem drolligen Akzent, der seltsamen Stimme und dem weibischen Aussehen; der Junge, den man wegen seines zierlichen Wuchses und seines Erscheinungsbildes auslachte. In der sechsten Klasse war er ganz allein, hatte keine Freunde und war die Zielscheibe des allgemeinen Spottes. Er erzählte seinen Eltern nie von seinen Schwierigkeiten in der Schule. Niemals erwähnte er, wie sehr man ihn schikanierte und dass die anderen ihn aus Spaß an der Freude verprügelten.
Er war ein Außenseiter, und wie es häufig geschah, rotteten sich die Außenseiter irgendwann zusammen. Sie waren diejenigen, die nicht zu den anderen passten, die Unbeliebten, die Andersgearteten, denen plötzlich bewusst wurde, dass ihre Stärke in der Größe ihrer Gruppe lag. Chris fand Freunde unter denen, die sich die Zahl ihrer Kumpel, ihrer Fäuste und letzten Endes ihrer Waffen zunutze machten, um andere einzuschüchtern. Chris wurde ein Gott für die Mitglieder seiner zwölfköpfigen Gang, denn er brachte den anderen bei, wie man schoss, wie man die Waffen pflegte, wie man ein Messer benutzte – Fertigkeiten, die von den elf Gangmitgliedern mit Begeisterung erlernt wurden. Chris lehrte sie, wie groß die Macht der Bedrohung war und wie man andere damit beherrschen konnte, sodass angedrohte Strafen als Überzeugungsmittel sehr viel effektiver waren, als die angedrohte Tat tatsächlich zu begehen.
Ihre Zwölfer-Bande erlangte einen immer berüchtigteren Ruf und regierte bald die Straßen. Sie nahmen sich, was sie wollten und von wem sie es wollten. Ihre Arroganz nahm ebenso zu wie die Gewalt, mit der sie andere einschüchterten, denn es schien niemanden zu geben, der sie aufhalten konnte.
Es war an einem Donnerstagabend. Chris war gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Bisher hatten sie immer nur kleine Händler überfallen, aber jetzt hatten sie beschlossen, es eine Nummer größer zu versuchen. Einige Bandenmitglieder standen auf der Straße Schmiere, während andere in der Gasse Stellung bezogen hatten. Chris kletterte durch das kleine Fenster, was ihm dank seiner kindlichen Statur leichtfiel. Mit seinem Messer vorn am Gürtel und seiner Pistole hinten unter dem Hosenbund fühlte er sich unschlagbar. Er eilte durch den Laden, schnappte sich Halsketten und Armbanduhren, Ohrringe und Armbänder; er erging sich im Hochgefühl des Augenblicks, in dem Nervenkitzel, gegen das Gesetz zu verstoßen und sich am Allerheiligsten eines anderen Menschen zu vergehen. Die Alarmanlage heulte, aber das machte ihm nichts, denn Augenblicke später war er wieder auf dem Weg nach draußen.
Doch als er durchs Fenster kletterte und in der Gasse landete, musste er plötzlich feststellen, dass er ganz allein war und geradewegs in die Mündung der.38er Halbautomatik eines Polizeibeamten starrte. Seine Freunde, seine Gang, waren verschwunden. Der Cop war ebenfalls allein, hielt die Waffe mit beiden Händen. Der Schweißtropfen, der ihm über die rechte Schläfe rollte, verriet, dass er ein Anfänger war, ein Rookie.
Der junge Polizist war vom Anblick des jugendlichen Diebes völlig verdutzt. Er fuhr Chris an, er solle beide Hände heben …
Das war der Moment, da Chris die Worte seines Vaters in den Ohren klangen. Das hier war der Grund dafür gewesen, dass Vater ihn das Schießen gelehrt hatte, das Enthäuten, das Überleben. Ja, Vater hatte ihm beigebracht, was man tun musste, um durchzukommen, ob in den Wäldern oder im Dschungel der Großstädte.
Chris ließ die Tasche mit dem gestohlenen Schmuck fallen, sodass der Cop unwillkürlich darauf schaute und für einen Moment abgelenkt war. Ehe er sich versah, war er tot, so schnell wurde das Messer durch seinen Hals gerammt – mit einer solchen Wucht, dass es im Nacken wieder heraustrat. Chris drehte es in der Einstichwunde, durchschnitt die Halsschlagader und den Rückenmarkskanal und trennte beinahe den Kopf vom Körper.
Chris sah sich um, völlig unbeeindruckt von dem Blutbad, das er angerichtet hatte. Dann blickte er auf den Leichnam des jungen Polizisten, als wäre der
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