Der Dieb der Finsternis
gar kein Mensch, sondern ein Stück Wild. Es faszinierte ihn, wie der Körper zuckte. Dann blickte Chris wieder auf und stellte fest, dass seine Bande sich tatsächlich in alle Winde zerstreut hatte. Sie alle waren bei ihren Familien untergetaucht, wo sie in Sicherheit waren, und hatten ihn alleingelassen, um mit dem Nachspiel fertig zu werden.
Die Polizei kam drei Tage später. Die Beamten gingen verschiedenen Spuren nach und folgten Hinweisen, und sie wollten mit Chris sprechen. In ihrer charmanten und überzeugenden Art bat Nuray die Polizisten ins Haus und erklärte ihnen, ihr Sohn sei mit ihrem Mann auf der Rennbahn. Sie machte ihnen Kaffee und blieb beharrlich dabei, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse; die Beamten könnten gerne warten, um mit Chris zu sprechen. Doch lehnten sie dankend ab und machten sich sofort auf den Weg zur Rennbahn. Daraufhin ging Nuray nach oben, packte eine Reisetasche und weckte Chris. Auf der Stelle machten sie sich auf den Weg nach Kanada, wo sie ihm Geld gab, ihn in ein Flugzeug mit Ziel Türkei setzte und ihm erklärte, er könne niemals zurückkommen. Eine Woche blieb er bei ihren Verwandten; dann machte er sich auf den Weg nach London, denn in der Türkei gefiel es ihm nicht. In London wurde Englisch gesprochen, und wenn er es in der Welt zu etwas bringen wollte, musste er zumindest die Sprache der Menschen verstehen, die er beraubte.
Er war nun sechzehn Jahre alt, sah aber jünger aus. Und er war noch nicht ganz aus dem Zug gestiegen, als ihm eine Waffe in den Rücken gedrückt wurde. Der Mann führte ihn in eine Seitengasse, hielt ihm die Waffe gegen die Schläfe und verlangte, dass Chris ihm sein Geld gab. Sekunden später trat Chris aus der Gasse heraus. Nur ganz wenig Blut war geflossen. Der Kerl, der versucht hatte, ihn zu berauben, hatte fünftausend Pfund Bargeld bei sich gehabt. Das war schon mal ein Anfang.
Chris wohnte in Fremdenzimmern und Absteigen. Er trieb sich auf den Straßen herum und machte sich einen Namen. Er erlernte ein Handwerk. Er probierte herum. Taschendiebstahl, Straßenraub, kleine Einbrüche. Er war schnell, und seine Körpergröße war trügerisch, denn er war sehr kräftig. Er trieb viel Sport, erlernte diverse Kampfsportarten und trainierte seinen Körper wie ein Athlet, um in jener gefährlichen Welt zu überleben, die er sich als die seine ausgesucht hatte.
Er arbeitete sich hoch, beraubte Juwelierläden, Kunstgalerien und Privathäuser der Luxusklasse. Er verlieh sich selbst den letzten Schliff, bildete sich und war schier unersättlich, wenn es um Literatur über Kunstgeschichte ging. Er wurde ein Experte, was die Wertbemessung von Kunst und Juwelen betraf. Er lernte von den Auktionshäusern – sowohl von den legitimen wie Sotheby’s und Christie’s als auch von den unsichtbaren wie Killian McShane, der nicht nur mit Schwarzmarktkunst und Juwelen handelte, sondern auch dafür bekannt war, Diebstähle in Auftrag zu geben.
Im Gegensatz zu den anderen Dieben in London kannte Chris keine Grenzen. Er konnte sich an etwas festbeißen, und egal, wie schwierig es war – er hatte am Ende Erfolg. Er bereiste den Kontinent, stahl in Stockholm einen Renoir, in Amsterdam einen Degas und aus dem Louvre drei Holzkohle-Skizzen von Fermete.
Zeitgleich perfektionierte er seine Fähigkeit zu töten. Er wurde zu einem Experten auf diesem Gebiet. Abgesehen von einem blutverschmierten Tatort hinterließ er niemals auch nur den Hauch einer Spur, die ihn mit dem Verbrechen in Verbindung hätte bringen können. Und ob es mittels einer Pistole oder mit seiner bevorzugten Waffe geschah, dem Messer: Nie bereitete es ihm Gewissensbisse, ein Leben zu beenden. Weder Männer, Frauen oder Kinder konnten ihn umstimmen. Wenn sie im Weg waren, wurden sie ausgeschaltet.
Gelegentlich hatte Chris sich sogar zu Auftragsmorden anheuern lassen. Es war eine Herausforderung, die er sich selbst stellte, um herauszufinden, ob er in der Lage war, einen Mord zu planen und auszuführen, ohne Spuren oder Beweise zu hinterlassen. Manchmal mordete er aus nächster Nähe mit einem Messer, manchmal aus einer Entfernung von achthundert Metern mit einem Präzisionsgewehr.
Seine schmächtige Erscheinung, die ihm in seiner Kindheit so viel Spott eingebracht hatte, wurde seine Verbündete, die perfekte Maske, hinter der er sich der ahnungslosen Welt präsentieren konnte, eine makellose Fassade, die es einem Monstrum erlaubte, sich unter die Unschuldigen zu mischen.
Im Alter von
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