Der Dieb der Finsternis
sich die Seilrolle über die Schulter und eilte los, ohne auf ihre Antwort zu warten.
KC blieb noch einen Moment sitzen und beobachtete, wie Michael sich im Schutz der dunklen Schatten auf dem Mauerrand entfernte. Dann erhob sie sich ebenfalls und schloss rasch zu ihm auf. Nebeneinander liefen sie dahin. Es war, als befänden sie sich in einer völlig fremden Welt. Der Ausblick war unvergleichlich und ehrfurchtgebietend. Es war eine Perspektive, aus der nur eine Hand voll Menschen das Gelände des Topkapi-Palasts jemals zu Gesicht bekommen hatte. Das gemeine Volk ging seinem lärmenden Tagwerk nach, ohne sich der friedvollen Sphäre bewusst zu sein, die sich unmittelbar über ihren Köpfen befand.
Aus dieser Perspektive wirkte der Topkapi-Palast wie eine ungeordnete Ansammlung von Gebäuden, die aus dem Boden sprossen – ohne Plan oder irgendeine Symmetrie. Teilbereiche erstreckten sich in sämtliche Richtungen: nach oben, nach unten, nach rechts und links, nach Ost und West, allesamt verbunden durch die blau verbleiten Dächer und Kuppeln, die minarettartigen Türme und Schornsteine.
Sie bahnten sich ihren Weg über die leicht abschüssigen Dächer, wobei sie sich von den Rändern fernhielten, weil jeder Wachmann, der auf dem Gelände Streife ging, sie hätte sehen können. Sie liefen vorüber am Turm der Gerechtigkeit, über den Harem hinweg und um den Beschneidungspavillon herum und gelangten schließlich auf das Dach des Gebäudes, in dem sich die Ausstellung der Miniaturen und Manuskripte befand. Michael blickte über das offene Gelände: In der Mitte der Baustelle war eine kleine dunkle Grube, ein schwarzes Loch, das sämtliches Licht im Umfeld in sich aufzusaugen schien.
Sie suchten mit Blicken das Gelände ab, stellten fest, dass niemand in der Nähe war, und arbeiteten sich zum Außenrand des Daches vor. Von dort sprangen sie drei Meter in die Tiefe und rollten sich ab. Dann spurteten sie auf das weiße Gebäude der Bibliothek zu und kamen neben einer Reihe orangeroter Bauhütchen und einem Bagger zum Stehen.
Michael befestigte die beiden Seile am Stahlrahmen des Baggers. Dann schnappte er sich das Seil mit beiden Händen und stieg in die Grube. Sechs Meter ließ er sich in absolute Finsternis sinken; dann verharrte er und blickte nach oben, bis er die Silhouette von KC an dem Seil nach unten gleiten sah, das neben seinem hing. Er schwebte im Nichts. Sein Atmen hallte von den kühlen Wänden wider, die ihn umgaben.
Michael knipste seine Taschenlampe ein und sah, dass das Licht sich unter ihm auf einer Wasseroberfläche spiegelte.
»Ist das deine großartige Idee?«, wisperte KC und schaltete ebenfalls die Taschenlampe ein.
Michael machte sich nicht die Mühe, sie einer Antwort zu würdigen, und glitt tiefer nach unten. Bis dort waren es noch einmal sechs Meter; das Ende seines Seils rollte sich auf der Wasseroberfläche nach oben wie eine Schlange, die darauf wartete, zuzubeißen. Nur Zentimeter über dem Wasser kam Michael zum Stillstand, ließ das Licht der Lampe schweifen und stellte fest, dass sie sich in einer Art Höhle befanden. Die Luft war kühl. Kalzit war aus der gewölbten, kuppelartigen Decke gesickert und hatte eine künstliche Tropfsteinhöhle gebildet.
Michael drehte sich an seinem Seil langsam um die eigene Achse und leuchtete mit der Lampe umher. Die Höhle war etwa zehn Meter breit und dreißig Meter lang; die Wände waren aus uraltem Stein und Ziegeln, die von der Feuchtigkeit schimmerten. Es war so still, dass selbst der kleinste Tropfen, der zu ihnen hinunterfiel, laut schallte.
»Das ist eine Zisterne«, flüsterte KC.
»Ja und nein.« Langsam ließ Michael sich ins Wasser gleiten. Als seine Füße nach anderthalb Metern endlich festen Boden beführten, reichte das Wasser ihm bis zu den Schultern. Es war glasklar und kühl, vielleicht achtzehn Grad. »Es ist viel mehr als nur eine Zisterne.«
Zisternen, große unterirdische Wasserspeicher, gab es bereits seit Hunderten von Jahren. Sie sicherten die Frischwasserversorgung und waren von Menschenhand geschaffene Staubecken für die Angehörigen des Königshauses und die Oberschicht. Es gab Hunderte davon unter der Stadt Istanbul.
KC ließ sich ebenfalls ins kalte Wasser gleiten und schnappte nach Luft, als ihr Körper eintauchte.
Michael zog einen Kompass aus der Tasche, leuchtete mit der Taschenlampe darauf und machte sich in nördlicher Richtung auf den Weg durch die tiefschwarze Höhle.
KC richtete den Strahl ihrer
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