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Der Dieb der Finsternis

Der Dieb der Finsternis

Titel: Der Dieb der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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Taschenlampe gegen die Wände, nach oben auf die Decke und nach unten ins Wasser. Voller Misstrauen schaute sie sich um, als könne jeden Moment etwas aus der Dunkelheit hervorbrechen und über sie herfallen.
    Michael plagte sich weiter voran, bis ihm im Licht seiner Taschenlampe plötzlich etwas ins Auge fiel: An der Wand auf der anderen Seite erblickte er ein Relikt aus präislamischer Zeit. Man hatte das Symbol in den Fels gemeißelt. Obwohl es abgesplittert und verwittert war, bestand kein Zweifel an seiner christlichen Bedeutung.
    »Was meinst du damit – ja und nein?«, fragte KC.
    »Bevor es Topkapi gab«, antwortete Michael, »und bevor es diese Zisterne gab, war das hier ein Kloster. Das stand in Simons Notizen. Das Kloster stammte aus den Zeiten Konstantins des Großen. Es war früher üblich, neue Bauten auf alte Gemäuer oder Grundmauern zu setzen, und man benutzte das Material alter Bauwerke, um neue Gebäude daraus zu errichten.«
    Michael begriff, was diese Höhle ursprünglich gewesen war. Er sah Kruzifix neben Kruzifix an der Wand. Darunter befanden sich Ausbuchtungen, die man aus dem Stein und der zerklumpten Erde gemeißelt oder gegraben hatte. In jeder dieser Nischen stand ein steinerner Sarg.
    »Das ist eine Krypta«, sagte er.
    »Na toll. Als wäre es hier unten nicht schon unheimlich genug.«
    Sie schauten sich um. Die meisten Särge waren intakt; nur wenige waren zerbröckelt, sodass man die Knochen nicht mehr vom Marmor unterscheiden konnte.
    »Was bin ich froh, dass ich mir keinen Schluck von dem Wasser gegönnt habe«, meinte KC.
    Michael und KC arbeiteten sich weiter vor. Das kalte Wasser setzte ihnen allmählich zu, sodass sie nur noch langsam vorankamen. Endlich erreichten sie die Wand am anderen Ende. Hier ging es nicht mehr weiter. Michael leuchtete mit seiner Taschenlampe, fand aber nirgendwo eine Öffnung. KC bewegte sich nach links, besah sich die Wände und suchte nach einer Öffnung, nach einer Spur, die auf einen versteckten Raum hindeutete.
    Michael untersuchte die Wand aus Stein und Ziegel und hielt sich dabei dicht am Rand – und da spürte er es plötzlich. Es war eine sanfte Bewegung, eine Strömung. Michael leuchtete noch einmal mit seiner Lampe umher; dann tauchte er ohne Vorwarnung unter und verschwand.
    KC drehte sich um und stellte fest, dass sie plötzlich allein war. Sie umklammerte ihre Taschenlampe, als könnte die sie vor der Finsternis beschützen.
    »Michael?«
    Er tauchte nicht wieder auf.
    »Michael?«, wiederholte KC und watete zu der Stelle, an der Michael verschwunden war, leuchtete mit der Taschenlampe ins Wasser und suchte nach einer Spur von ihm. Sie spürte, wie die Strömung ihren Körper umspülte. Dreißig Sekunden waren inzwischen vergangen. Wieder leuchtete sie mit der Lampe und entdeckte unter Wasser ein Rohr, das etwa einen Meter zwanzig breit war. Sie wartete. Eine weitere Minute verging.
    Panik erfasste KC. Sie hatte Michael verschwiegen, dass sie sich vor der Dunkelheit fürchtete. Seit ihrem sechsten Lebensjahr litt sie an dieser Phobie. Damals hatte sie allein im Bett gelegen und die Schatten an der Wand beobachtet, während aus dem Schlafzimmer nebenan die Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr gedrungen war – ein Kreischen und Wispern, Lachen und Weinen, ganz so, als wäre sie in einem Raum voller Gäste, als wären tatsächlich Menschen mit ihr im Zimmer. Oft bekam ihre Mutter Weinkrämpfe oder schlug zornig auf die körperlosen Gespenster ein, die ihr Geist ihr vorgaukelte. Jedes Mal, wenn KCs Mutter einen dieser Anfälle hatte, fingen die Schatten an der Wand plötzlich zu tanzen an und griffen nach dem kleinen Mädchen, um es in eine fremde, Furcht erregende Welt zu zerren.
    KC hatte im Lauf der Jahre gelernt, ihre Ängste unter Kontrolle zu halten, hatte die Furcht aber nie wirklich überwunden. Manchmal, wenn es dunkel war um sie herum, glaubte sie, wieder das Wispern und Kreischen zu hören und die Stimme ihrer Mutter, die sie in die Vergangenheit zog, zurück in diese entsetzlichen Nächte.
    Jetzt, da KC in der dunklen Höhle ihre Taschenlampe umklammerte, wurde sie zusehends nervöser. Wo war Michael? Saß er irgendwo fest? Würde sie auch festsitzen, wenn sie versuchte, durch das Rohr zu schwimmen? Würden sie beide ertrinken?
    Anderthalb Minuten. KCs Furcht verwandelte sich in Wut.
    »Verdammt, Michael!«, stieß sie hervor, tauchte unter und leuchtete in das breite Rohr, froh, dass Michael wasserdichte Taucherlampen besorgt hatte.

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