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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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im Gramercy Tavern. Aber das war eine Zukunft, die es nie gegeben hatte: Ich feierte ein alkoholisiertes Kartoffelchips-Thanksgiving mit Boris vor dem Fernseher.
    » Was sollen wir essen, Potter? « Boris kratzte sich den Bauch.
    » Was? Hast du Hunger? «
    Er wackelte mit der Hand hin und her: Comme ci, comme ça. » Du nicht? «
    » Nicht besonders. « Mein Gaumen war wund von den vielen Chips, und von den Zigaretten wurde mir allmählich flau.
    Plötzlich heulte Boris vor Lachen los und richtete sich auf. » Hör nur! « Er gab mir einen Tritt und deutete auf den Fernsehapparat. » Hast du das gehört? «
    » Was denn? «
    » Den Nachrichtensprecher. Er hat eben seinen Kindern ein frohes Fest gewünscht. › Bastard und Casey ‹ . «
    » Ach komm. « Boris verhörte sich dauernd bei englischen Wörtern– akustische Malapropismen, manchmal amüsant, meistens nur nervig.
    »› Bastard und Casey ‹ ! Das ist Hammer, was? Casey, okay– aber sein eigenes Kind im Feiertagsfernsehen Bastard zu nennen? «
    » Das hat er nicht gesagt. «
    » Na schön, wenn du alles weißt, was hat er denn gesagt? «
    » Scheiße, woher soll ich das wissen? «
    » Wieso streitest du dann mit mir? Wieso glaubst du immer, du weißt es besser? Was hat dieses Land für ein Problem? Wie konnte ein so blödes Volk so arrogant und reich werden? Amerikaner… Filmstars… Fernsehleute… die geben ihren Kindern Namen wie Apple und Blanket und Bear und Bastard und alles mögliche verrückte Zeug. «
    » Und damit willst du sagen…? «
    » Ich will sagen, die Demokratie ist ein Vorwand für jeden Scheißdreck. Gewalt… Habgier… Dummheit… alles ist okay, wenn Amerikaner es tun, ja? Hab ich recht? «
    » Du kannst wirklich einfach nicht mal die Klappe halten, stimmt’s? «
    » Ich weiß, was ich gehört hab, ha! Bastard! Ich sag dir was. Wenn ich glaube, mein Kind ist ein Bastard, dann würde ich es verflucht noch mal anders nennen. «
    Im Kühlschrank lagen Chicken Wings und Taquitos und Cocktail-Würstchen, die Xandra mitgebracht hatte, und Teigtaschen aus dem Chinarestaurant in der Shopping Plaza, wo mein Vater gern aß. Aber als wir schließlich so weit waren, dass wir essen wollten, war die Flasche Wodka (Boris’ Beitrag zu Thanksgiving) halb leer, und wir waren auf dem besten Wege, uns zu übergeben. Boris, der manchmal eine ernsthafte Phase hatte, wenn er betrunken war, eine russenhafte Neigung zu schweren Themen und unbeantwortbaren Fragen, saß auf der Marmortheke, schwenkte ein auf die Gabel gespießtes Cocktail-Würstchen und schwatzte ein bisschen wild über Armut und Kapitalismus und Klimawandel und über die Welt, die im Arsch war.
    Irgendwann sagte ich völlig verwirrt: » Boris, halt die Klappe. Ich will das nicht hören. « Er war in mein Zimmer gegangen und hatte mein Schulexemplar von Walden herausgeholt, und jetzt las er mit lauter Stimme eine Passage, die irgendeine These untermauerte, die er aufgestellt hatte.
    Er warf mit dem Buch nach mir– zum Gück war es ein Paperback–, und es streifte meinen Wangenknochen. » Istshésni! Hau ab! «
    » Ich wohne hier, du ignorantes Arschloch. «
    Das Cocktail-Würstchen, das immer noch auf der Gabel steckte, segelte knapp an meinem Kopf vorbei. Aber wir lachten beide. Als die Hälfte des Nachmittags vorbei war, waren wir sternhagelvoll; wir wälzten uns auf dem Teppich, stolperten übereinander, lachten und fluchten und krochen auf Händen und Knien herum. Im Fernsehen lief ein Footballspiel und ging uns beiden auf die Nerven, aber es war zu anstrengend, die Fernbedienung zu suchen und den Kanal zu wechseln. Boris war so breit, dass er immer wieder versuchte, mit mir Russisch zu sprechen.
    » Sprich Englisch oder halt’s Maul. « Ich versuchte, mich am Geländer festzuhalten, und wich seinem Schwinger so ungeschickt aus, dass ich krachend auf dem Couchtisch landete.
    » Ty menjá dostál! Poschól ty! «
    » Quak quak quak « , antwortete ich mit einer weinerlichen Mädchenstimme und lag dabei mit dem Gesicht auf dem Teppich. Der Fußboden schwankte und bäumte sich auf wie das Deck eines Schiffs. » Backe backe Balalaika. «
    » Scheiß téli k ! « Boris kippte neben mir auf den Boden und trat albern nach dem Fernseher. » Will diese Scheiße nicht sehen! «
    » Na, ehrlich, scheiße « , ich rollte mich herum und hielt mir den Bauch, » ich auch nicht. « Meine Augen blieben nicht richtig in der Spur, und die Gegenstände hatten Lichtkränze, die über die normalen

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