Der Distelfink
nicht mehr, während er am Tisch saß, seinen Wodka herunterkippte, sich mit einer Papierserviette die feuchte Stirn betupfte und in seinem zerbeulten Radio laut die russischen Nachrichten hörte. Aber dann waren wir eines Abends mit Popper unten (ich hatte ihn von zu Hause mitgebracht) und schauten uns einen alten Peter-Lorre-Film mit dem Titel Die Bestie mit den fünf Fingern an, als die Haustür laut zugeschlagen wurde.
Boris schlug sich an die Stirn. » Scheiße! « Ehe ich michs versah, drückte er mir Popper in die Arme, packte mich beim Kragen, zog mich hoch und gab mir einen Stoß ins Kreuz.
» Was…? «
Er wedelte hektisch mit der Hand– hau ab! » Der Hund « , zischte er, » mein Dad bringt ihn um. Schnell! «
Ich lief durch die Küche und so leise wie möglich zur Hintertür hinaus. Draußen war es sehr dunkel. Zum ersten Mal in seinem Leben gab Popper keinen Laut von sich. Ich setzte ihn ab und wusste, er würde dicht bei mir bleiben, als ich jetzt außen herum zu den Wohnzimmerfenstern ging, an denen keine Vorhänge hingen.
Sein Dad benutzte einen Gehstock– das hatte ich noch nicht gesehen. Er stützte sich schwer darauf und humpelte in das helle Zimmer wie eine Figur in einem Theaterstück. Boris stand da, die Arme vor der schmalen Brust gekreuzt und um den Oberkörper geschlungen.
Er und sein Vater hatten Streit– genauer gesagt, sein Vater redete wütend auf ihn ein. Boris starrte zu Boden. Die Haare hingen ihm ins Gesicht, und deshalb sah ich nur seine Nasenspitze.
Abrupt warf er den Kopf in den Nacken, sagte ein paar scharfe Worte und wandte sich ab, um zu gehen. Boris’ Dad– so hinterhältig, dass ich kaum Zeit hatte, auch nur zu ahnen, was da kommt– ließ seinen Stock vorwärtsschnellen wie eine Schlange, quer über Boris’ Schultern, und schlug ihn damit zu Boden. Bevor er wieder aufstehen konnte– er kauerte auf Händen und Knien–, trat Mr. Pavlikovsky ihn ganz hinunter, packte ihn dann hinten beim Hemd und riss den Stolpernden auf die Beine. Auf Russisch keifend und kreischend, schlug er ihm mit seiner roten, beringten Hand ins Gesicht, rechts und links: klatsch klatsch. Schließlich stieß er ihn von sich. Boris taumelte in die Mitte des Zimmers, und sein Vater holte mit dem Gehstock aus und schlug ihm die Krücke mitten ins Gesicht.
Halb im Schock wich ich vor dem Fenster zurück, so orientierungslos, dass ich über einen Müllsack stolperte und hinfiel. Popper– erschrocken über den Lärm– rannte hin und her und winselte hoch und schrill. Ich rappelte mich panisch inmitten von scheppernden Dosen und Bierflaschen gerade wieder hoch, als die Tür aufflog und ein Viereck aus gelbem Licht auf den Zementboden fiel. So schnell, wie ich konnte, war ich auf den Beinen, raffte Popper an mich und rannte los.
Aber es war nur Boris. Er holte mich ein, packte mich beim Arm und zerrte mich die Straße hinunter.
» Meine Güte. « Ich ließ mich ein Stück zurückfallen und wollte mich umsehen. » Was war denn das? «
Hinter uns flog die Haustür auf. Mr. Pavlikovskys Silhouette stand im Lichtschein, mit einer Hand aufgestützt, schüttelte die Faust und brüllte etwas auf Russisch.
Boris zog mich weiter. » Komm schon! « Wir rannten die dunkle Straße entlang, und unsere Schuhe klatschten auf den Asphalt, bis die Stimme seines Vaters schließlich verhallt war.
» Scheiße « , sagte ich und ging langsamer, als wir um die Ecke gebogen waren. Mein Herz klopfte, und in meinem Kopf drehte sich alles. Popper zappelte winselnd und wollte heruntergelassen werden; ich setzte ihn auf den Asphalt, und er rannte im Kreis um uns herum. » Was ist denn passiert? «
» Ach, nichts. « Boris klang grundlos fröhlich und wischte sich mit einem nassen, schniefenden Geräusch über die Nase. »› Ein Sturm im Wasserglas ‹ , sagen wir auf Polnisch. Er hatte einfach zu viel. «
» Zu viel von dir oder zu viel gesoffen? «
» Beides. Aber ein Glück, dass er Poptschik nicht gesehen hat, denn sonst– keine Ahnung. Er findet, Tiere gehören nach draußen. Hier « , sagte er und hielt eine Wodkaflasche hoch, » sieh mal, was ich habe! Hab sie auf dem Weg nach draußen geklaut. «
Ich roch das Blut an ihm, bevor ich es sah. Ein Halbmond stand am Himmel– nicht sehr hell, aber hell genug–, und als ich vor ihm stand und ihn anschaute, sah ich, dass es ihm aus der Nase lief und dass sein Hemd davon ganz dunkel war.
» Mann « , sagte ich, immer noch atemlos, » ist alles okay? «
» Lass
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