Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
Vom Netzwerk:
zuckte die Achseln. » Weil ich weiß. Niemand hat solche Tätowierungen in USA . Russischer Staatsbürger, keine Frage. Er wusste, dass ich auch Russe bin, sobald ich Mund aufgemacht habe. «
    Es verging eine Weile, bis mir bewusst wurde, dass ich dasaß und ins Leere starrte. Boris hob Poptschik so behutsam von seinem Schoß auf das Sofa, dass er nicht aufwachte. » Willst du eine Weile hier verschwinden? «
    » O Gott. « Ich schüttelte unvermittelt den Kopf– die Wucht des Besuches hatte mich aus irgendeinem Grund gerade erst wirklich getroffen, eine verzögerte Reaktion. » Scheiße, ich wünschte, mein Dad wäre zu Hause gewesen. Weißt du? Ich wünschte, der Typ hätte ihm den Arsch versohlt. Echt. Er hat es verdient. «
    Boris trat mir gegen den Knöchel. Seine Füße waren schwarz vor Dreck, die Nägel dank Kotku schwarz lackiert.
    » Weißt du, was ich gestern gegessen habe? « , fragte er gesellig. » Zwei Nestlé und eine Pepsi. « Für Boris waren alle Schokoriegel » Nestlé « , so wie alle nicht alkoholischen Getränke mit Kohlensäure » Pepsi « waren. » Und weißt du, was ich heute gegessen habe? « Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine Null. » Nol. «
    » Ich auch nicht. Von dem Zeug wird man appetitlos. «
    » Ja, aber ich muss etwas essen. Mein Bauch… « Er zog eine Grimasse.
    » Sollen wir Pfannkuchen holen? «
    » Ja– irgendwas– ist mir egal. Hast du Geld? «
    » Ich guck mal. «
    » Gut, ich glaube, ich habe ungefähr fünf Dollar. «
    Während Boris Schuhe und ein Hemd suchte, spritzte ich mir ein bisschen Wasser ins Gesicht, begutachtete meine Pupillen und die Beule am Kinn, knöpfte mein Hemd wieder auf, als ich sah, dass es falsch zugeknöpft war, ließ dann Poptschik vor die Tür und warf ein paar Mal den Tennisball für ihn, weil er keinen richtigen Spaziergang an der Leine gemacht hatte und ich wusste, dass er sich eingesperrt fühlte. Als wir wieder hereinkamen, war Boris– mittlerweile bekleidet– im Erdgeschoss. Wir hatten kurz das Wohnzimmer durchsucht, lachten und laberten, schmissen unsere Münzen zusammen und überlegten, wohin wir gehen wollten und wie wir am schnellsten dorthin kamen, als wir plötzlich bemerkten, dass Xandra hereingekommen war und mit einem komischen Gesichtsausdruck im Zimmer stand.
    Sofort hörten wir beide auf zu reden und sortierten unser Kleingeld schweigend weiter. Es war keine Uhrzeit, zu der Xandra normalerweise nach Hause kam, aber ihr Schichtplan war manchmal völlig unregelmäßig, und es war nicht das erste Mal, dass sie uns überraschte. Aber dann sagte sie mit unsicher klingender Stimme meinen Namen.
    Wir vergaßen das Kleingeld. Im Allgemeinen nannte Xandra mich Kiddo oder Hey, du, alles Mögliche, nur nicht Theo. Mir fiel auf, dass sie noch ihre Arbeitsuniform trug.
    » Dein Dad hatte einen Autounfall « , sagte sie. Es war, als ob sie sich an Boris statt an mich richten würde.
    » Wo? « , fragte ich.
    » Es ist vor zwei Stunden passiert. Das Krankenhaus hat mich bei der Arbeit angerufen. «
    Boris und ich sahen uns an. » Wow « , sagte ich. » Was ist passiert? Hat er den Wagen zu Schrott gefahren? «
    » Er hatte einen Blutalkohol von 3,9 Promille. «
    Die Zahl sagte mir nichts, die Tatsache, dass er getrunken hatte, dagegen schon. » Wow « , sagte ich und steckte mein Kleingeld ein, dann: » Und wann kommt er nach Hause? «
    Sie sah mich leeren Blickes an. » Nach Hause? «
    » Aus dem Krankenhaus. «
    Sie schüttelte hastig den Kopf, sah sich nach einem Stuhl um und setzte sich. » Du verstehst nicht. « Ihre Miene war seltsam und ausdruckslos. » Er ist gestorben. Er ist tot. «
    XVIII
    An die nächsten sechs oder sieben Stunden erinnere ich mich nur verschwommen. Etliche von Xandras Freunden kamen vorbei: ihre beste Freundin Courtney, ihre Arbeitskollegin Jane und ein Paar namens Stewart und Lisa, die netter und viel normaler waren als die Leute, die Xandra normalerweise zu Gast hatte. Boris kramte großzügig die Reste von Kotkus Gras hervor, was alle Anwesenden zu schätzen wussten. Dankenswerterweise bestellte irgendjemand (vielleicht war es Courtney) Pizza– wie sie Domino’s dazu brachte, sie zu uns nach Hause zu liefern, weiß ich nicht, denn Boris und ich hatten seit einem Jahr vergeblich gefleht und gebettelt und alle nur erdenklichen Schmeicheleien und Ausreden probiert.
    Während Janet neben Xandra saß und den Arm um sie legte, Lisa ihren Kopf tätschelte, Stewart in der Küche Kaffee machte und Courtney

Weitere Kostenlose Bücher