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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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zitternde Schatten, Rauschen, das Summen eines nicht zu sehenden Projektors. Als ich meine ausgestreckte Hand betrachtete, war sie mit Staubkörnern gesprenkelt und hell wie ein halb zersetzter alter Filmschnipsel.
    » Wow, jetzt sehe ich es auch. « Boris wandte sich mir zu– eine irgendwie verlangsamte, handgekurbelte Bewegung, vierzehn Bilder pro Sekunde. Sein Gesicht war kalkweiß, und seine Pupillen waren dunkel und riesig.
    » Sehen? « , fragte ich vorsichtig.
    » Du weißt schon. « Er wedelte mit seiner im Scheinwerferlicht leuchtenden, schwarzweißen Hand durch die Luft. » Alles ist flach, wie Film. «
    » Aber du …? « Es ging nicht nur mir so? Er sah es auch?
    » Natürlich « , sagte Boris, der mit jedem Moment weniger aussah wie ein Mensch und mehr wie ein zerfallenes Stück Nitrofilm, und hinter ihm strahlte Licht aus einer versteckten Quelle. » Aber ich wünschte, wir könnten haben etwas in Farbe. Wie › Mary Poppins ‹ vielleicht. «
    Als er das sagte, fing ich so unkontrolliert und heftig an zu lachen, dass ich beinahe von der Schaukel gefallen wäre, weil ich in diesem Moment sicher wusste, dass er dasselbe sah wie ich. Mehr noch: Wir erschufen es. Was immer die Droge uns sehen ließ, wir konstruierten es gemeinsam. Und mit dieser Einsicht schaltete der Virtuelle-Realität-Simulator auf Farbe um. Es geschah für uns beide gleichzeitig, pop! Wir sahen uns an und lachten einfach, alles war urkomisch, sogar die Rutsche des Spielplatzes lächelte uns an, und irgendwann tief in der Nacht, als wir auf dem Spielturm schaukelten und Funkenströme aus unseren Mündern regneten, hatte ich die Epiphanie, dass Lachen Licht war und Licht Lachen und dass dies das Geheimnis des Universums war. Stundenlang sahen wir zu, wie die Wolken sich zu immer neuen intelligenten Mustern formierten, wälzten uns im Dreck und dachten, es wäre Seegras (!), lagen auf dem Rücken und sangen für die einladenden dankbaren Sterne » Dear Prudence « – wirklich eine der großartigsten Nächte meines Lebens, trotz allem, was später geschah.
    XVI
    Boris übernachtete bei mir, weil ich näher beim Spielplatz wohnte und er (in seinem eigenen Lieblingsausdruck für Berauschtheit) w gowno war, was » hacke « oder » hackedicht « oder etwas in der Richtung bedeutete– jedenfalls zu weggetreten, um noch ohne Begleitung im Dunkeln nach Hause zu finden. Und das war ein Glück, denn so war ich nicht allein im Haus, als am nächsten Nachmittag um halb vier Mr. Silver vorbeischaute.
    Obwohl wir kaum geschlafen hatten und ein bisschen wackelig auf den Beinen waren, fühlte sich alles noch immer ein klein wenig magisch an und voller Licht. Wir tranken Orangensaft, guckten Zeichentrickfilme (eine gute Idee, weil es die ausgelassene Technicolor-Stimmung des Abends auszudehnen schien) und– schlechte Idee– hatten gerade den zweiten Joint des Nachmittags geteilt, als es an der Tür klingelte. Poptschik, der die ganze Zeit extrem gereizt gewesen war– er spürte, dass wir irgendwie neben der Spur waren, und hatte uns angebellt, als ob wir besessen wären–, drehte sofort durch, beinahe so als hätte er etwas in der Richtung erwartet.
    Sofort stürzte alles wieder auf mich ein. » Verdammte Scheiße « , sagte ich.
    » Ich geh « , sagte Boris sofort, klemmte Poptschik unter den Arm und schlenderte los, barfuß und mit nacktem Oberkörper, scheinbar vollkommen unbekümmert. Doch nach höchstens einer Sekunde, so fühlte es sich an, kam er aschfahl zurück.
    Er sagte nichts, und das musste er auch nicht. Ich stand auf, zog Turnschuhe an, band sie fest zu (wie ich es mir vor unseren Ladendiebstahlsexpeditionen für den Fall angewöhnt hatte, dass ich fliehen musste) und ging zur Tür. Mr. Silver war wieder da– weißes Sportjackett, Schuhcreme-Frisur, das volle Programm–, nur stand diesmal neben ihm ein großer Typ mit verwischten Tattoos, die sich über beide Unterarme schlängelten, und einem Baseballschläger aus Aluminium in der Hand.
    » Hallo, Theodore! « , Mr. Silver schien ehrlich erfreut, mich zu sehen. » Wie geht’s, wie steht’s? «
    » Gut. « Ich staunte, wie unbekifft ich mich mit einem Schlag fühlte. » Und selbst? «
    » Ich kann mich nicht beklagen. Das ist aber eine ziemliche Beule, die du da im Gesicht hast, Kumpel. «
    Ich berührte vorsichtig meine Wange. » Hm. «
    » Da solltest du dich besser drum kümmern. Dein Freund sagt mir, dein Dad ist nicht zu Hause. «
    » Äh, das ist richtig. «
    » Alles okay

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