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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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hörte und wusste, dass er unten mit seinen Werkzeugen, Hautklebern und mehrfarbigen Hölzern leise vor sich hin werkelte.
    Bei den Barbours hatte mein fehlendes Taschengeld mich ständig geplagt. Meine an Mrs. Barbour zu richtenden Bitten um Geld fürs Mittagessen, in der Schule anfallende Auslagen und andere kleine Ausgaben lösten in mir jedes Mal eine ängstliche Nervosität aus, die in keinem Verhältnis zu den Summen stand, die sie immer unbekümmert ausgezahlt hatte. Mit meinem monatlichen Stipendium zum Lebensunterhalt von Mr. Bracegirdle war es mir weniger peinlich, mich unangemeldet bei Hobie eingenistet zu haben. Ich konnte Poptschiks Tierarztrechnungen bezahlen, ein kleines Vermögen, denn er hatte schlechte Zähne und eine leichte Herzwurmerkrankung (meines Wissens hatte Xandra ihm während meiner gesamten Zeit in Vegas nie Medikamente oder Spritzen geben lassen). Auch meine eigenen beträchtlichen Zahnarztrechnungen (sechs Füllungen, zehn höllische Stunden auf einem Zahnarztstuhl) konnte ich begleichen und mir außerdem einen Laptop, ein iPhone sowie die dringend benötigten Schuhe und Wintersachen kaufen. Und auch wenn Hobie kein Haushaltsgeld annehmen wollte, brachte ich trotzdem Lebensmittel für ihn mit, die ich bezahlte: Milch, Zucker und Waschpulver von Grand Union, aber noch öfter frische Produkte von dem Bauernmarkt auf dem Union Square, wilde Pilze und Winesap-Äpfel, Rosinenbrot, ein kleiner Luxus, über den er sich sichtlich freute, während er die großen Waschpulverkartons nur traurig musterte, bevor er sie wortlos in die Vorratskammer brachte.
    Es war vollkommen anders als die beengte, komplizierte und übertrieben förmliche Atmosphäre bei den Barbours, wo alles einstudiert und festgelegt war wie in einer Broadway-Produktion, eine stickige Perfektion, der Andy sich ständig entzogen hatte, um sich wie ein scheuer Tintenfisch in sein Zimmer zurückzuziehen. Im Gegensatz dazu lebte und schwebte Hobie wie ein großer Meeressäuger in seiner eigenen milden Atmosphäre voller dunkelbrauner Tee- und Tabakflecken, wo jede Uhr im Haus etwas anderes anzeigte und die Zeit sich nicht an einem Standardmaß orientierte, sondern stattdessen mit einem gelassenen Ticken dahintröpfelte und dem Tempo seines mit Antiquitäten vollgestopften toten Gewässers gehorchte, weit entfernt von der massenproduzierten, kunstharzverklebten Version der Welt. Obwohl er gerne ins Kino ging, gab es keinen Fernseher, er las alte Romane mit marmoriertem Einband, er besaß kein Handy, sein Computer, ein prähistorischer IBM -Rechner, war so groß wie ein Koffer und nutzlos. In vorwurfsloser Stille vergrub er sich in seiner Arbeit, bog Furniere über Wasserdampf, drechselte Tischbeine, und seine zufriedene Versunkenheit stieg aus seiner Werkstatt nach oben und breitete sich im Haus aus wie die Wärme eines Holzofens im Winter. Er war zerstreut und freundlich, er war nachlässig, konfus, bescheiden und sanft. Wenn man ihn ansprach, hörte er einen oft erst beim zweiten oder dritten Mal, er verlor seine Brille, verlegte Brieftasche, Schlüssel und Reinigungszettel und rief mich ständig nach unten, damit ich mit ihm auf allen vieren einen kleinen Beschlag oder ein winziges Metallstück suchte, das er auf den Boden hatte fallen lassen. Hin und wieder öffnete er auf Verabredung für ein oder zwei Stunden den Laden, doch das war– soweit ich es beurteilen konnte– kaum mehr als ein Vorwand, um sich mit Freunden und Bekannten zu treffen und eine Flasche Sherry zu öffnen, und wenn er doch ein Möbelstück vorführte und unter dem Ah und Oh seiner Zuschauer Schubladen auf und zu schob, geschah das offenbar hauptsächlich in dem Geist, in dem Andy und ich vor langer Zeit in der Erzählstunde unsere Spielsachen hervorgekramt hatten.
    Wenn er tatsächlich irgendwann ein Stück verkaufte, bekam ich es nie mit. Sein Reich (wie er es nannte) war die Werkstatt oder besser » die Klinik « , wo sich verkrüppelte Stühle und Tische stapelten und seiner Behandlung harrten. Wie ein Gärtner, der mit seinen Treibhauspflanzen beschäftigt war und Läuse von jedem Blatt wischte, vertiefte er sich in die Beschaffenheit und Maserung jedes einzelnen Möbelstücks, seine versteckten Schubladen, Narben und Wunder. Zwar besaß er einige moderne Holzwerkzeuge– einen Nuthobel, einen kabellosen elektrischen Bohrer und eine Kreissäge–, benutzte sie jedoch kaum. ( » Wenn man für etwas Ohrstöpsel braucht, kann ich nicht viel damit anfangen.

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