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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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das ist wundervoll. Freust du dich nicht? Und so kurzfristig! Versuch, ein wenig glücklicher auszusehen, mein Lieber. Wann fängt er an? « , fragte sie Hobie.
    II
    Die angenehme Überraschung war, dass das Early-College-Programm nach der traumatischen Aufnahmeprüfung nicht annähernd so rigoros war, wie ich befürchtet hatte. In gewisser Hinsicht war es die am wenigsten fordernde Schule, die ich je besucht hatte: keine Leistungskurse, keine einschüchternden Vorträge über Abschlusstests und Aufnahmeprüfungen an Ivy-League-Unis, keine Mathe, die einem das Genick brach, und keine Pflichtsprachkurse– eigentlich überhaupt keine Pflichtkurse. Mit wachsendem Erstaunen sah ich mich in diesem akademischen Paradies für Nerds um, in das ich gestolpert war, und begriff, warum so viele begabte und talentierte Highschool-Schüler aus allen fünf Stadtbezirken sich dumm und dämlich geschuftet hatten, um einen Platz zu ergattern. Es gab keine Tests, keine Prüfungen, keine Noten. Es gab Kurse, in denen man Solarpaneele baute, Seminare mit Nobelpreisträgern in Wirtschaftswissenschaft und Kurse, in denen man nichts anderes machte, als Tupac-Alben zu hören oder Folgen von Twin Peaks zu gucken. Den Schülern stand es frei, sich nach Gutdünken Seminare in Robotik oder der Geschichte der Computerspiele auszudenken, wenn sie wollten. Man hatte die Wahl zwischen interessanten Alternativen, in der Mitte des Semesters musste man zu Hause ein paar Essays schreiben und am Ende des Semesters ein Projekt präsentieren. Doch obwohl ich wusste, wie viel Schwein ich gehabt hatte, war es mir trotzdem unmöglich, Glück oder auch nur Dankbarkeit für mein Los zu empfinden. Es war, als hätte ich eine chemische Veränderung meines Bewusstseins erlitten, als wäre der Säure-Basen-Haushalt meiner Seele ins Ungleichgewicht geraten und hätte mir das Leben an Stellen ausgesaugt, die unmöglich zu reparieren waren, oder andersherum: als wäre ich das Skelett einer lebendigen Koralle, die versteinerte.
    Ich konnte tun, wonach mir war. Ich hatte es schon einmal getan: alles ausblenden und vorwärtsmarschieren. Vier Vormittage die Woche stand ich um acht Uhr auf, duschte in der freistehenden Wanne mit Krallenfüßen in dem Bad, das von Pippas Zimmer abging (Duschvorhang mit Pusteblumenmuster und der Duft ihres Erdbeer-Shampoos, der mir mit dem Dampf in die Nase stieg und mich mit einem Gefühl ihrer lächelnden Präsenz scheinbar spöttisch umhüllte). Dann– abrupter Absturz zurück auf die Erde– stieg ich aus der Dampfwolke und kleidete mich schweigend in meinem Zimmer an, steckte– nachdem ich den panisch hin und her rennenden und vor Angst quiekenden Poptschik einmal um den Block geschleift hatte– den Kopf in die Werkstatt, verabschiedete mich von Hobie, schulterte meinen Rucksack und fuhr mit der U-Bahn zwei Stationen Richtung Downtown.
    Die meisten Schüler belegten fünf oder sechs Kurse, doch ich beschränkte mich auf das vorgeschriebene Minimum von vier: Kunst, Französisch, Einführung in den europäischen Film, Russische Literatur in Übersetzung. Ich wollte eigentlich einen russischen Sprachkurs nehmen, aber Russisch 101– der Einführungskurs– wurde erst im Wintersemester angeboten. Mit reflexhafter Gleichgültigkeit erschien ich zu meinen Kursen, sprach, wenn ich angesprochen wurde, erledigte meine Aufgaben und ging wieder nach Hause. Manchmal aß ich nach der Schule in einem der billigen mexikanischen oder italienischen Restaurants rund um die NYU , Flipperautomaten und Plastikpflanzen, Sportübertragungen auf Breitwandfernsehern und während der Happy Hour das Bier für einen Dollar (jedoch nicht für mich: Es war seltsam, mich wieder an mein Leben als Minderjähriger anzupassen, wie eine Rückkehr zu Kindergarten und Wachsmalkreiden). Weil man sich dort kostenlos so viel Sprite nachnehmen konnte, wie man wollte, lief ich hinterher voll auf Zucker, den Kopf gesenkt und den iPod aufgedreht, durch den Washington Square Park zu Hobies Haus. Wegen meiner ständigen Angst (der wiedergefundene Rembrandt war immer noch überall in den Nachrichten) hatte ich große Probleme einzuschlafen, und jedes Mal wenn es unerwartet klingelte, sprang ich auf, als wäre ein Großbrand ausgebrochen.
    » Du verpasst etwas, Theo « , sagte Susanna, meine Beratungslehrerin (duzen war obligatorisch, alle waren gute Freunde), » die Angebote außerhalb des Lehrplans sind es, die unseren Schülern auf einem städtischen Campus Anschluss

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