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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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sorgenvoll zerfurcht. Er konnte über nichts anderes sprechen als die wiedergefundenen Gemälde. » Überall verwundete Menschen, verblutende Menschen, und da kommt dieser Bursche und schnappt sich die Bilder von der Wand. Trägt sie draußen im Regen mit sich herum. «
    » Nun, das überrascht mich ehrlich gesagt nicht « , sagte Mr. Amstiss, der an seinem vierten Scotch on the rocks arbeitete. » Nach Mutters zweitem Herzinfarkt? Man glaubt nicht, was für ein Chaos diese Trottel vom Beth Israel Medical Center hinterlassen haben. Schwarze Fußspuren überall auf dem Teppich. Wir haben noch wochenlang Spritzenkappen aus Plastik auf dem Fußboden gefunden, der Hund hätte beinahe eine verschluckt. Und sie haben auch etwas zerbrochen, irgendwas aus dem Porzellanschrank, Martha, was war es noch? «
    » Also, Sie werden mich bestimmt nicht bei einer Klage über Notärzte und Rettungssanitäter ertappen « , sagte Hobie. » Ich war wirklich beeindruckt von den Leuten, die hergekommen sind, als Juliet krank war. Ich bin bloß froh, dass man die Gemälde gefunden hat, bevor sie zu stark beschädigt wurden, das hätte wirklich eine– Theo? « , sagte er ziemlich unvermittelt, sodass ich rasch von meinem Teller aufblickte. » Ist alles in Ordnung? «
    » Tut mir leid. Ich bin bloß müde. «
    » Kein Wunder « , sagte Mrs. Amstiss, die amerikanische Geschichte an der Columbia University lehrte; sie war auch diejenige, die Hobie mochte und mit der er befreundet war, während Mr. Amstiss die bedauerliche Hälfte des Pakets darstellte. » Du hattest einen anstrengenden Tag. Machst du dir Sorgen wegen deines Tests? «
    » Nein, eigentlich nicht « , sagte ich, ohne nachzudenken, was mir sofort leidtat.
    » Oh, ich bin sicher, er schafft es « , meinte Mr. Amstiss. » Du schaffst das « , sagte er in einem Ton zu mir, als könnte man das von jedem Idioten erwarten, und dann wieder an Hobie gewandt: » Die meisten Early-College-Programme haben ihren Namen nicht verdient, hab ich recht, Martha? Glorifizierte Highschools. Schwierig, angenommen zu werden, doch wenn man es geschafft hat, ein Kinderspiel. So ist das heutzutage mit den jungen Leuten– Teilnahme, Mitarbeit und dann erwarten sie einen Preis. Jeder gewinnt. Wissen Sie, was einer von Marthas Studenten neulich zu ihr gesagt hat? Erzähl es ihnen, Martha. Der Junge kommt nach dem Seminar zu ihr und will mir ihr reden. Ich sollte nicht Junge sagen– ein älteres Semester. Und wissen Sie, was er gesagt hat? «
    » Harold « , sagte Mrs. Amstiss.
    » Er sagt, er macht sich Sorgen wegen seiner Testergebnisse und möchte ihren Rat. Weil es ihm schwerfällt, sich Dinge zu merken. Ist das nicht die Krönung? Ein Examensstudent in amerikanischer Geschichte, dem es schwerfällt, sich Dinge zu merken? «
    » Nun, ich finde es weiß Gott auch schwer, mir Sachen zu merken « , sagte Hobie freundlich, stand auf, um abzuräumen, und lenkte das Gespräch in andere Bahnen.
    Aber spät an jenem Abend, als die Amstisses gegangen waren und Hobie schlief, saß ich in meinem Zimmer, starrte auf die Straße, lauschte dem entfernten Dröhnen der LKW auf der Sixth Avenue und gab mir alle Mühe, meine Panik kleinzureden.
    Doch was sollte ich machen? Ich hatte Stunden an meinem Laptop verbracht und mich im Eiltempo durch gefühlt Hunderte von Artikeln geklickt– Le Monde, Daily Telegraph, Times of India, La Republica, Sprachen, die ich nicht einmal lesen konnte, jede Zeitung der Welt hatte darüber berichtet. Die Geldbußen, die zu den Haftstrafen hinzukamen, waren ruinös: zweihunderttausend, eine halbe Million Dollar. Und noch schlimmer: Die Frau, der das Haus gehörte, wurde belangt, weil die Gemälde in ihrer Immobilie gefunden worden waren. Das bedeutete, dass Hobie höchstwahrscheinlich auch Ärger bekommen würde– viel schlimmeren Ärger als ich. Die Frau, eine Kosmetikerin im Ruhestand, behauptete, sie habe keine Ahnung gehabt, dass die Bilder sich in ihrem Haus befunden hatten. Aber Hobie? Ein Antiquitätenhändler? Wer würde ihm, selbst wenn er mich unschuldig und aus reiner Herzensgüte aufgenommen hatte, glauben, dass er nichts davon gewusst hatte?
    Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Auch wenn die Diebe aus einem Impuls heraus handelten und vorher in keiner Weise aktenkundig geworden waren, wird ihre Unerfahrenheit uns nicht davon abhalten, bei ihrer Strafverfolgung die Strenge des Gesetzes anzulegen. Ein Kommentator aus London hatte mein Gemälde in einem Atemzug mit dem

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