Der Distelfink
Karmeywallag, Neuguinea oder wo auch immer) ein so gesetztes Vorspiel-zum-Erwachsen-Sein-Leben führte wie jenes, in das ich gerutscht war. Andy und ich– sogar Tom Cable und ich– hatten immer endlos darüber geredet, was wir als Erwachsene werden wollten, während Boris anscheinend nie einen Gedanken an seine Zukunft weiter als bis zum nächsten Essen verschwendete. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sich in irgendeiner Weise darauf vorbereitete, seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden. Aber wenn man mit Boris zusammen war, wusste man, dass das Leben voller großartiger, alberner Möglichkeiten steckte– weit größer als irgendwas, was sie einem in der Schule beibrachten. Ich hatte es lange aufgegeben, ihm zu simsen oder ihn anzurufen; die Nachrichten an Kotkus Handy blieben unbeantwortet, sein Festnetzanschluss in Vegas war abgemeldet. Ich glaubte nicht mehr daran, dass ich ihn– bei seinem enormen Bewegungsradius– jemals wiedersehen würde. Und doch dachte ich beinahe täglich an ihn. Die russischen Romane, die ich für die Schule las, erinnerten mich an ihn; russische Romane, Die sieben Säulen der Weisheit und auch die Lower Eastside– Tattoo-Studios, Läden, die Piroggen verkauften, Marihuana-Duft in der Luft, alte polnische Damen, die mit Einkaufstüten beladen von links nach rechts schwankten, und Jugendliche, die in den Eingängen von Bars entlang der Second Avenue rauchten.
Und manchmal– unerwartet und mit einer Schärfe, die beinahe schmerzhaft war– dachte ich an meinen Vater. Chinatown mit seiner protzigen Schäbigkeit und seinen unsicheren, undeutbaren Stimmungen erinnerte mich an ihn: Spiegel und Aquarien, Ladenfenster mit Plastikblumen und Töpfen mit Glücksbambus. Manchmal wenn ich die Canal Street hinunterlief, um für Hobie bei Pearl Paint pulverisierten Bimsstein und venezianisches Terpentin zu kaufen, schlenderte ich bis zur Mulberry Street zu einem Restaurant, das mein Dad gemocht hatte, in der Nähe der U-Bahn, acht Stufen hinunter in einen Keller mit fleckigen Kunststofftischen, wo ich knusprige Frühlingszwiebelpfannkuchen und scharf gewürztes Schweinefleisch kaufte, Gerichte, auf die ich zeigen musste, weil die Karte auf Chinesisch war. Als ich zum ersten Mal beladen mit fettigen Papiertüten bei Hobie aufgetaucht war, hatte seine ausdruckslose Miene mich stutzen lassen, ich stand im Zimmer wie ein Schlafwandler, der mitten im Traum aufgewacht war, und fragte mich, an wen genau ich gedacht hatte– jedenfalls bestimmt nicht an Hobie; er gehörte nicht zu denen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit Heißhunger auf chinesisches Essen hatten.
» Oh, ich mag es « , beteuerte er hastig, » ich denke nur nie daran. « Und so aßen wir unten in der Werkstatt direkt aus den Kartons, Hobie auf seinem Hocker in seiner schwarzen Schürze, die Ärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt, mit Stäbchen, die zwischen seinen großen Fingern eigenartig klein aussahen.
III
Die informelle Natur meines Aufenthalts bei Hobie bereitete mir ebenfalls Sorgen. Obwohl Hobie selbst in seiner diffusen Güte anscheinend nichts gegen meine Anwesenheit in seinem Haus einzuwenden hatte, betrachtete Mr. Bracegirdle das Ganze offensichtlich als ein Provisorium, und sowohl er als auch meine Beratungslehrerin hatten mir in aller Ausführlichkeit erklärt, dass die Wohnheime an meiner Schule zwar für ältere Schüler reserviert wären, man in meinem Fall jedoch eine Lösung finden könne. Aber jedes Mal wenn die Frage meiner Unterbringung aufkam, verstummte ich und starrte auf meine Schuhe. Die Wohnheime waren überfüllt, überall tote Fliegen, der käfigartige Fahrstuhl war mit Graffiti beschmiert und klapperte wie ein Gefängnislift. Die Wände waren mit Konzert-Flyern tapeziert, die Fußböden klebrig von verschüttetem Bier, und auf den Sofas im Fernsehraum lungerte ein zombiehafter Mob von in Decken gehüllten Kolossen und zugedröhnten Typen mit Gesichtsbehaarung– aus meiner Sicht erwachsene Männer, große unheimliche Typen über zwanzig–, die sich im Flur gegenseitig mit leeren Bierdosen bewarfen. » Nun, du bist noch ein wenig jung « , sagte Mr. Bracegirdle, als ich– in die Enge getrieben– meine Befürchtungen äußerte, obwohl der wahre Grund für meine Bedenken etwas war, worüber ich nicht sprechen konnte: Wie konnte ich mir– unter meinen Umständen– mit jemandem ein Zimmer teilen? Was war mit Sicherheitsvorkehrungen?
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