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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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ermöglichen. Vor allem unseren jüngeren Schülern. Man kann sich leicht verlieren. «
    » Na ja… « Sie hatte recht: Ich war einsam in der Schule. Die Achtzehn-, Neunzehnjährigen gaben sich nicht mit den Jüngeren ab, und obwohl es jede Menge Schüler in meinem Alter und jünger gab (sogar einen mickrigen Zwölfjährigen, der angeblich einen IQ von 260 hatte), war ihr Leben so klösterlich und ihre Sorgen schienen mir so albern und fremd, dass es mir vorkam, als sprächen sie eine vergessene Mittelschulsprache, die ich nicht mehr beherrschte. Sie lebten zu Hause bei ihren Eltern, sorgten sich um Dinge wie ihren Notendurchschnitt, Italienisch im Ausland und Sommerpraktika bei der UNO ; sie flippten aus, wenn man sich in ihrer Gegenwart eine Zigarette ansteckte; sie waren gewissenhaft, unbeschädigt, ahnungslos und meinten es gut. Bei allem, was ich mit ihnen gemeinsam hatte, hätte ich ebenso gut versuchen können, mit den Achtjährigen aus der Public School41 in Greenwich Village abzuhängen.
    » Ich sehe, du hast Französisch gewählt. Der Französisch-Club trifft sich einmal die Woche in einem französischen Restaurant am University Place. Und dienstags gehen sie zur Alliance Française und gucken französischsprachige Filme. Das hört sich doch an, als könnte es dir Spaß machen. «
    » Kann sein. « Der Leiter des französischen Instituts, ein ältlicher Algerier, hatte mich bereits angesprochen (es war ein Schock, als ich seine große feste Hand auf meiner Schulter spürte, war ich zusammengeschreckt, als würde ich überfallen) und mir ohne Vorrede erklärt, dass er ein Seminar unterrichtete, an dem ich vielleicht teilnehmen wollte. Die Wurzeln des modernen Terrorismus, beginnend mit der FLN und dem Algerienkrieg– ich hasste es, dass alle Dozenten in dem Programm offenbar wussten, wer ich war, und sich erkennbar in Kenntnis » der Tragödie « an mich wandten, wie Mrs. Lebowitz ( » Nenn mich Ruthie! « ) es genannt hatte. Auch sie– Mrs. Lebowitz– hatte mir zugesetzt, ich sollte mich dem Filmclub anschließen, nachdem sie meinen Essay über Fahrraddiebe gelesen hatte. Außerdem meinte sie, ich könnte vielleicht Gefallen an dem Philosophie-Club finden, bei dem es unter anderem wöchentliche Diskussionen zu den großen Fragen gab, wie sie sich ausdrückte. » Ähm, vielleicht « , sagte ich höflich.
    » Nun, ausgehend von deinem Aufsatz habe ich den Eindruck, dass du dich angezogen fühlst von dem, was ich in Ermangelung eines besser geeigneten Wortes das Metaphysische nennen möchte. Zum Beispiel die Frage, warum gute Menschen leiden müssen « , fuhr sie fort, als ich sie weiter nichtssagend ansah. » Ist Schicksal Zufall? Dein Essay beschäftigt sich weniger mit den filmischen Aspekten De Sicas, als vielmehr mit dem elementaren Chaos und der Ungewissheit der Welt, in der wir leben. «
    » Ich weiß nicht « , sagte ich in der folgenden verlegenen Pause. Handelte mein Essay wirklich von diesen Dingen? Fahrraddiebe hatte mir nicht mal gefallen (genauso wenig wie Kes, Die Möwe, Lacombe, Lucien oder irgendeiner der anderen extrem deprimierenden ausländischen Filme, die wir in Mrs. Lebowitz’ Kurs gesehen hatten).
    Mrs. Lebowitz sah mich so lange an, bis mir unbehaglich wurde. Dann schob sie ihre hellrote Brille hoch und sagte: » Nun, das meiste, was wir in dem Kurs ›Europäischer Film‹ durchnehmen, ist ziemlich schwere Kost. Deswegen dachte ich, du hättest vielleicht Lust, an einem meiner Seminare für Hauptfachstudenten teilzunehmen. › Screwball-Komödien der Dreißiger ‹ oder › Die Stummfilm-Ära ‹ . Wir gucken Dr. Caligari, aber auch viel Buster Keaton und viel Charlie Chaplin– Chaos, verstehst du, aber in einem unbedrohlichen Kontext. Lebensbejahend. «
    » Mal sehen « , sagte ich. Aber ich hatte nicht die Absicht, mich auch nur mit dem kleinsten Bröckchen zusätzlicher Arbeit zu belasten, egal wie lebensbejahend es sein mochte. Denn praktisch von dem Moment an, in dem ich die Schule betreten hatte, war der trügerische Energieschub, mit dem ich mich in das Early-College-Programm gekämpft hatte, in sich zusammengebrochen. Die reichhaltigen Angebote berührten mich nicht; ich hatte nicht das Bestreben, mich auch nur ein bisschen mehr anzustrengen, als ich unbedingt musste. Ich wollte bloß durchkommen, den Kopf über Wasser halten.
    Deshalb schlug die enthusiastische Begrüßung meiner Lehrer rasch in Resignation und ein vages, unpersönliches Bedauern um. Ich suchte keine

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