Der Distelfink
Herausforderungen, entwickelte meine Talente nicht, erweiterte meinen Horizont nicht, nutzte die mir zur Verfügung gestellten Möglichkeiten nicht. Ich stellte mich nicht auf das Programm ein, wie Susanna es taktvoll formulierte. Im weiteren Verlauf des Semesters distanzierten meine Dozenten sich sogar allmählich von mir, und die Ermahnungen bekamen einen vorwurfsvolleren Ton. ( » Die akademischen Angebote scheinen Theo in keinem Bereich zu größerer Anstrengung anzuspornen. « ) Ich wurde immer argwöhnischer, dass der einzige Grund für meine Aufnahme in das Programm » die Tragödie « gewesen war. Jemand im Zulassungsbüro hatte meine Bewerbung markiert, sie an den Leiter weitergereicht, mein Gott, der arme Junge, ein Opfer des Terrorismus, bla, bla, bla, die Schule hat eine Verantwortung, wie viele freie Plätze haben wir noch, meinen Sie, wir können ihn unterbringen? Höchstwahrscheinlich hatte ich das Leben eines Junggenies aus der Bronx ruiniert– irgendein armer Klarinette spielender Loser aus einer Sozialsiedlung, der nach wie vor wegen seiner Mathehausaufgaben verprügelt wurde und als Fahrschein-Abknipser in einem Tickethäuschen enden würde, anstatt am California Institute of Technology Strömungslehre zu unterrichten, weil ich seinen oder ihren rechtmäßigen Platz eingenommen hatte.
Offensichtlich war da jemandem ein Fehler unterlaufen. » Theodore nimmt kaum am Unterricht teil und zeigt kein Interesse, seinem Studium mehr Aufmerksamkeit zu widmen als unbedingt nötig « , schrieb mein Französischprofessor in einem vernichteten Zwischenbericht zur Semestermitte, den– in Abwesenheit eines streng beaufsichtigenden Elternteils– niemand außer mir zu sehen bekam. » Es bleibt zu hoffen, dass seine mangelhaften Leistungen ihn anspornen werden, sich doch noch zu bewähren, damit er in der zweiten Semesterhälfte mehr von seiner Situation profitieren kann. «
Aber ich hatte kein Bedürfnis, von meiner Situation zu profitieren, und noch weniger, mich doch noch zu bewähren. Wie ein Mann ohne Gedächtnis streifte ich durch die Straßen (anstatt meine Hausaufgaben zu machen, ins Sprachlabor zu gehen oder einen der Clubs zu besuchen, zu denen ich eingeladen worden war), fuhr alleine U-Bahn bis zur Endstation, wo ich durch Viertel mit Schnapsläden und Salons für Haarverlängerung lief wie durchs Fegefeuer. Doch schon bald verlor sich auch mein Interesse an meiner neu entdeckten Mobilität– Hunderte Kilometer von Gleisen, Fahren einfach nur so–, und ich vertiefte mich wie ein Stein, der lautlos im Wasser versinkt, in müßige Arbeiten in Hobies Werkstatt, eine willkommene Schläfrigkeit unterhalb des Straßenniveaus, wo ich, abgeschottet von dem Lärm der Stadt und all den himmelwärts strebenden Drohgebärden der Bürotürme und Wolkenkratzer, zufrieden Tischplatten polierte und stundenlang klassische Musik auf WNYC hörte.
Denn was kümmerte mich das Passé composé oder die Werke von Turgenjew? War es verkehrt, die Decke über den Kopf ziehen und ausschlafen zu wollen, in dem friedlichen Haus herumzulaufen, vorbei an Schubladen voller alter Muscheln, gefalteter Polsterstoffe in Weidenkörben unter dem Sekretär im Salon, und wenn das Licht bei Sonnenuntergang in heftigen Korallenmustern durch die Lünette über der Haustür schien? Es dauerte nicht lange, bis ich zwischen Schule und Werkstatt in eine Art selbstvergessenen Halbschlaf fiel, eine verdrehte, traumartige Version meines früheren Lebens, in der ich durch vertraute Straßen lief und doch in unvertrauten Umständen lebte, unter anderen Gesichtern. Und obwohl ich auf dem Weg zur Schule oft an mein altes, verlorenes Leben mit meiner Mutter dachte– die U-Bahn-Station Canal Street, beleuchtete Blumenauslagen auf dem koreanischen Markt, alles Mögliche konnte diese Erinnerungen auslösen–, war es, als wäre vor der Zeit in Vegas ein schwarzer Vorhang gefallen.
Nur in unbedachten Momenten drang es manchmal durch, impulsiv und rebellisch, sodass ich mitten auf dem Bürgersteig stehen blieb. Irgendwie war die Gegenwart zu einem kleineren und sehr viel uninteressanteren Ort geschrumpft. Vielleicht lag es bloß daran, dass ich nüchterner durchs Leben ging, nicht mehr die chronische verschwenderische Pracht jener lodernden adoleszenten Räusche, unser eigener kleiner Zwei-Mann-Kriegerstamm, der durch die Wüste tobte; vielleicht fühlte es sich einfach so an, wenn man älter wurde, obwohl es unvorstellbar war, dass Boris (in Warschau,
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