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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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komplett desinteressiert an meiner großen, sorgfältig beschrifteten Sporttasche mit dem kunstvoll heraushängenden Etikett des Zweimannzelts. Genauso wenig, wie es irgendjemand auch nur im Geringsten bemerkenswert oder ungewöhnlich fand, dass ich das Schließfach für ein Jahr im Voraus in bar bezahlen wollte– oder vielleicht besser zwei Jahre? War das in Ordnung? » Geldautomat ist gleich da vorne « , sagte der Puerto Ricaner an der Kasse und wies in die Richtung, ohne von seinem Sandwich mit Schinken und Ei aufzublicken.
    So einfach, fragte ich mich in dem Fahrstuhl nach unten. » Schreib dir deine Schließfachnummer auf « , sagte der Typ an der Kasse, » und die Kombination und bewahr sie an einem sicheren Ort auf « , doch ich hatte beides längst auswendig gelernt– ich hatte genug James-Bond-Filme gesehen, um zu wissen, wie so was funktionierte– und warf den Zettel, sobald ich draußen war, in den nächsten Mülleimer.
    Nachdem ich die gruftartige Stille und die stetig aus den Lüftungsschlitzen strömende muffige Luft in dem Lager hinter mir gelassen hatte, war ich geradezu ausgelassener Stimmung, wie von Scheuklappen befreit, und der blaue Himmel, der strahlende Sonnenschein, vertrauter morgendlicher Dunst aus Auspuffabgasen, das Rufen und Klagen der Hupen, all das erstreckte sich die Avenue hinunter in Richtung größerer und besserer Aussichten: ein sonniges Reich voller Menschen und Glück. Es war das erste Mal seit meiner Rückkehr nach New York, dass ich in der Nähe des Sutton Place war, und es fühlte sich an, als würde ich in einen angenehmen alten Traum zurückfallen, eine Überblendung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die vernarbte Oberfläche der Bürgersteige, sogar dieselben alten Spalten, über die ich auf dem Heimweg immer gehüpft war, in meiner Fantasie ein Flugzeug, die Flügel gekippt, bereit zur Landung, und im Tiefflug über das letzte Stück bis nach Hause– viele der alten Geschäfte gab es immer noch, das Deli, das griechische Diner, der Weinladen, all die vergessenen Gesichter der Nachbarschaft, die aus den trüben Tiefen meines Bewusstseins auftauchten, Sal, der Blumenhändler, Mrs. Battaglina aus dem italienischen Restaurant und Vinnie aus der Reinigung, der, das Bandmaß um den Hals, vor meiner Mutter kniete, um ihren Rock hochzustecken.
    Ich war nur ein paar Ecken von unserem alten Haus entfernt, und als ich in Richtung 57th Street blickte, jene helle vertraute Flucht, in die die Sonne im genau richtigen Winkel fiel, um sich golden in den Fenstern zu spiegeln, dachte ich: Goldie! Jose!
    Der Gedanke ließ mich schneller laufen. Es war Vormittag; einer von ihnen müsste Dienst haben, vielleicht sogar beide. Mein Versprechen, ihnen eine Postkarte aus Vegas zu schicken, hatte ich nicht gehalten: Sie würden sich riesig freuen, mich zu sehen, mich umringen, umarmen und mir auf den Rücken klopfen, gespannt zu hören, was alles passiert war, einschließlich des Todes meines Vaters. Sie würden mich nach hinten ins Postzimmer einladen, vielleicht Henderson, den Verwalter, anrufen und mir sämtlichen Klatsch aus dem Haus erzählen. Doch als ich inmitten von im Stau stehenden und hupenden Autos um die Ecke bog, sah ich schon von Weitem, dass das Haus komplett eingerüstet und die Fenster mit amtlichen Aushängen zugekleistert waren.
    Ich blieb geschockt stehen und ging dann– ungläubig– näher bis zur Haustür. Die Art-déco-Türen waren verschwunden, statt der kühlen, düsteren Lobby mit ihren polierten Böden und der Sunburst-lackierten Holztäfelung klaffte eine Höhle aus Trümmern und Betonblöcken, aus der Bauarbeiter mit Helmen Schubkarren voller Schutt schoben.
    » Was ist hier passiert? « , fragte ich einen Typen mit Helm und schmutzigem Gesicht, der gebückt ein wenig abseits stand und schuldbewusst einen Kaffee schlürfte.
    » Was soll das heißen, was ist hier passiert? «
    » Ich… « Ich trat einen Schritt zurück, blickte nach oben und sah, dass es nicht nur die Lobby war; sie hatten das komplette Gebäude entkernt, sodass man bis in den Hof auf der Rückseite blicken konnte. Die glasierten Mosaiken an der Fassade waren intakt geblieben, doch die Fenster waren staubig und blind mit nichts dahinter. » Ich habe früher hier gewohnt. Was ist hier los? «
    » Die Besitzer haben verkauft « , rief er über den Lärm von Presslufthämmern hinweg. » Die letzten Mieter sind vor ein paar Monaten raus. «
    » Aber… « Ich betrachtete die leere Hülle des

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