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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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seiner Haut zu fühlen. » Genau gesagt habe ich gerade einen neuen Job angefangen. « Er war nicht gut gealtert; früher war er der blondeste und attraktivste der Brüder gewesen, doch mittlerweile war er um Kinn und Hüften schwabbelig geworden, seine Gesichtszüge wirkten gröber und hatten ihre perverse frühere Jungvolk-Schönheit eingebüßt. » Ich arbeite für einen Wissenschaftsverlag. Blake-Barrows. Sie sitzen eigentlich in Cambridge, haben aber ein Büro in New York. «
    » Großartig « , sagte ich, als hätte ich schon von dem Verlag gehört, was nicht der Fall war, nickte, spielte mit dem Kleingeld in meiner Hosentasche und plante bereits meine Flucht. » Nun, wirklich toll, dich zu sehen. Wie geht’s Andy? «
    Seine Miene schien zu erstarren. » Du weißt es nicht? «
    » Na ja « , stotterte ich, » ich hab gehört, dass er auf dem MIT war. Vor ein oder zwei Jahren bin ich Win Temple mal über den Weg gelaufen– er sagte, Andy hätte ein Stipendium bekommen– Astrophysik? «
    Platt strich sich über den Hinterkopf. » Tut mir leid. Ich bin mir nicht sicher, ob wir wussten, wie wir dich erreichen können. Es ist alles immer noch sehr konfus. Aber ich hatte gedacht, du hättest es inzwischen bestimmt gehört. «
    » Was soll ich gehört haben? «
    » Er ist tot. «
    » Andy? « , sagte ich und, als er nicht reagierte: » Nein. «
    Eine flüchtige Grimasse– beinahe schon wieder verschwunden in dem Moment, in dem ich sie sah. » Ja. Tut mir leid, das zu sagen, aber es war ziemlich übel. Andy – und Daddy auch. «
    » Was? «
    » Vor fünf Monaten. Er und Daddy sind ertrunken. «
    » Nein. « Ich blickte auf den Bürgersteig.
    » Das Boot ist gekentert. Vor Northeast Harbor. Wir waren wirklich nicht weit draußen, vielleicht hätten wir gar nicht rausfahren sollen, aber Daddy– du weißt ja, wie er war … «
    » O mein Gott. « Ich stand an jenem ungewissen Frühlingsnachmittag da– die Schule war gerade zu Ende, überall um mich herum liefen Kinder– und fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen, benommen, wie das Opfer eines nicht witzigen Streiches. Obwohl ich im Laufe der Jahre oft an Andy gedacht und ihn ein oder zwei Mal nur knapp verpasst hatte, hatten wir nach meiner Rückkehr nach New York nie wieder Kontakt aufgenommen. Ich war mir sicher gewesen, dass ich ihm irgendwann über den Weg laufen würde– genau wie Win, James Villiers, Martina Lichtblau und ein paar anderen Leuten von meiner alten Schule. Aber auch wenn ich oft kurz davor gewesen war, den Hörer abzunehmen und mich bei ihm zu melden, hatte ich es irgendwie nie getan.
    » Alles in Ordnung? « , fragte Platt, massierte sich den Nacken und wirkte so unbehaglich, wie ich mich fühlte.
    » Ähm… « Ich wandte mich einem Schaufenster zu, um mich zu sammeln, und mein transparenter Geist begrüßte mich in der Scheibe, während hinter mir Menschenmassen vorbeiglitten.
    » Mann « , sagte ich. » Ich kann es nicht glauben. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. «
    » Tut mir leid, so auf der Straße damit herauszuplatzen « , sagte Platt und rieb sich das Kinn. » Du siehst ein bisschen blass um die Nase aus. «
    Blass um die Nase: ein Mr.-Barbour-Ausdruck. Mit einem Stich erinnerte ich mich daran, wie Mr. Barbour die Schubladen in Platts Zimmer durchsucht und angeboten hatte, ein Feuer für mich zu schüren. Verfluchte Sache, was da passiert ist, guter Gott.
    » Dein Dad auch? « Ich blinzelte wie aus tiefem Schlaf gerüttelt. » Hast du das gerade gesagt? «
    Er sah sich um, hob das Kinn auf eine Weise, die für einen Moment den arroganten alten Platt durchschimmern ließ, an den ich mich erinnerte, und sah auf die Uhr.
    » Komm, hast du einen Moment? « , fragte er.
    » Also… «
    » Lass uns einen Drink nehmen « , sagte er und schlug mir so heftig mit der Hand auf die Schulter, dass ich zusammenzuckte. » Ich kenne ein ruhiges Lokal in der 3rd Avenue. Was meinst du? «
    II
    Wir saßen in der fast leeren Bar– ein eichengetäfeltes, früher berühmtes Lokal mit Ivy-League-Wimpeln an der Wand, in dem es nach Hamburger-Fett stank–, und Platt redete, weitschweifig, unruhig, monoton und so leise, dass ich konzentriert zuhören musste, um ihm zu folgen.
    » Daddy « , sagte er und starrte in seinen Gimlet: Mrs. Barbours Drink. » Wir hatten alle Hemmungen, darüber zu sprechen– aber… Chemisches Ungleichgewicht nannte meine Großmutter es. Bipolare Störung. Die erste Episode oder den ersten Anfall oder wie man das nennt,

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