Der Distelfink
Gebäudes, den staubigen von Scheinwerfern beleuchteten Trümmerhaufen im Innern– Männer brüllten, Kabel baumelten. » Was machen sie damit? «
» Luxuswohnungen. Ab fünf Millionen aufwärts– Swimmingpool auf dem Dach– ist das zu glauben? «
» O mein Gott. «
» Ja, man sollte meinen, es wäre denkmalgeschützt, oder nicht? Ein schönes altes Haus– gestern mussten wir mit Presslufthämmern die Marmorstufen in der Lobby wegstemmen, erinnerst du dich daran? Eine echte Schande. Ich wünschte, wir hätten sie unversehrt rausholen können. Marmor von solcher Qualität sieht man nur noch selten, schönen alten Marmor. Aber « , er zuckte die Schultern, » so läuft das eben in der City. «
Er rief jemandem über uns etwas zu– einem Mann, der einen Eimer Sand abseilte–, und ich ging mit einem Gefühl der Übelkeit weiter, direkt unter unserem alten Wohnzimmerfenster oder seiner ausgebombten Hülle vorbei, zu verstört, um nach oben zu blicken. So ist er aus dem Weg, Kleiner, hatte José gesagt, als er meinen Koffer auf das Regal im Postzimmer gehievt hatte. Einige der Mieter wie der alte Mr. Leopold hatten seit mehr als siebzig Jahren in dem Haus gewohnt. Was war mit ihm geschehen? Oder mit Goldie oder José? Oder– was das betraf– mit Cinzia? Cinzia, die immer ein Dutzend Putzjobs oder mehr gleichzeitig gehabt und nur ein paar Stunden pro Woche in unserem Haus gearbeitet hatte und an die ich bis zu diesem Moment auch eigentlich nie gedacht hatte, aber all das hatte so stabil gewirkt, so unveränderlich, das ganze soziale System des Hauses ein Netz, wo ich jederzeit anknüpfen, vorbeischauen, Leute treffen, Hallo sagen und erfahren konnte, was los war. Menschen, die meine Mutter gekannt hatten. Menschen, die meinen Dad gekannt hatten.
Und je weiter ich mich entfernte, desto fassungsloser wurde ich über diesen Verlust eines der wenigen festen Ankerpunkte auf dieser Welt, die ich für selbstverständlich gehalten hatte: vertraute Gesichter, fröhliche Begrüßungen: Hey, Manito! Denn ich hatte gedacht, dass wenigstens dieses letzte Relikt meiner Vergangenheit noch an dem Ort sein würde, wo ich es zurückgelassen hatte. Seltsam die Vorstellung, dass ich mich nie mehr bei José und Goldie für das Geld bedanken konnte, das sie mir geschenkt hatten– und noch seltsamer, dass ich ihnen nie erzählen könnte, dass mein Vater gestorben war: Denn wen kannte ich sonst, der ihn gekannt hatte oder den es kümmern würde? Sogar der Bürgersteig der 57th Street fühlte sich an, als könnte er unter meinen Füßen einbrechen und mich in eine Tiefe reißen, in der ich nie aufhören würde zu fallen.
IV
Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen .
SCHILLER
KAPITEL 9
Alles, was möglich ist
I
Acht Jahre später– nachdem ich die Schule verlassen und angefangen hatte, für Hobie zu arbeiten– kam ich eines Nachmittags gerade aus der Bank of New York und ging aufgebracht und in Gedanken versunken die Madison Avenue hinunter, als ich meinen Namen hörte.
Ich drehte mich um. Die Stimme klang vertraut, doch den Mann erkannte ich nicht: um die dreißig, größer als ich, mit mürrischen grauen Augen und schulterlangem, farblos blondem Haar. Seine Kleidung– nachlässiger Tweedanzug, grober Rollkragenpullover– passte eher auf einen schlammigen Feldweg als in eine Straße der City, und er hatte die undefinierbare Ausstrahlung missratener Priviligiertheit wie jemand, der auf den Sofas von Freunden geschlafen, ein paar Drogen genommen und einen guten Teil des Vermögens seiner Eltern durchgebracht hatte.
» Ich bin’s, Platt « , sagte er. » Platt Barbour. «
» Platt « , sagte ich verdutzt nach einer Pause. » Ist lange her. Gütiger Gott. « Es war schwierig, in diesem ausgenüchterten und zuvorkommend wirkenden Fußgänger den Lacrosse-Rüpel von früher wiederzuerkennen. Die Überheblichkeit war verschwunden, das alte aggressive Funkeln; jetzt wirkte er ausgelaugt, und seine Augen hatten etwas Ängstliches und Fatalistisches. Er hätte ein unglücklicher Ehemann aus den Suburbs sein können, der sich Sorgen wegen seiner untreuen Frau machte, oder vielleicht ein in Ungnade gefallener Lehrer an irgendeiner zweitklassigen Schule.
» Tja, nun, Platt. Wie geht es dir? « , fragte ich nach einem unbehaglichen Schweigen und machte einen Schritt zurück. » Bist du immer noch in der City? «
» Ja « , sagte er und fasste mit einer Hand seinen Nacken, er schien sich äußerst unwohl in
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