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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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gebetet hatte (Mrs. Barbour!), bis die Schiff-an-Land-Meldung der Küstenwache kam. ( » Beim ersten kräftigen Wind rennt sie nach Rom, war’s nicht so, meine Liebe? Ha! « )
    » Daddy… « Platt schüttelte traurig den Kopf. » Mommy hat immer gesagt, wenn Manhattan keine Insel wäre, hätte er keine Minute lang hier leben können. Im Inland war er elend– sehnte sich ständig nach dem Wasser– musste es sehen, musste es riechen. Ich weiß noch, wie ich als Junge mal mit ihm von Connecticut nach Hause gefahren bin, und anstatt die 84direkt nach Boston zu nehmen, mussten wir einen meilenweiten Umweg über die Küste machen. Den Blick immer Richtung Atlantik gerichtet– er war wirklich unglaublich feinfühlig, wie sich die Wolken veränderten, je näher man dem Ozean kam. « Platt schloss einen Moment lang seine zementgrauen Augen und öffnete sie wieder. » Du wusstest, dass Daddys kleine Schwester sich ertränkt hat, oder? « , sagte er so tonlos, dass ich kurz dachte, ich hätte mich verhört.
    Ich blinzelte und wusste nicht, was ich sagen sollte. » Nein. Das wusste ich nicht. «
    » Nun, hat sie « , sagte Platt tonlos. » Kitsey ist nach ihr benannt. Ist während einer Party von einem Boot in den East River gesprungen– angeblich aus Jux, das haben alle gesagt, › ein Unfall ‹ , aber ich meine, jeder weiß, dass man so was nicht macht, die Strömungen waren wahnsinnig, haben sie direkt unter Wasser gezogen. Es ist noch ein weiterer Jugendlicher ertrunken, der hinterhergesprungen ist, um sie zu retten. Und dann war da Daddys Onkel Wendell, der in den Sechzigern eines Abends angetrunken wegen einer Wette versucht hat, ans Festland zu schwimmen– ich meine, Daddy hat immer davon gefaselt, dass das Wasser für ihn der Quell des Lebens an sich war, Jungbrunnen und dergleichen– sicher, das auch. Aber es war nicht nur Leben für ihn. Es war auch Tod. «
    Ich erwiderte nichts. In Mr. Barbours Segelgeschichten, die nie besonders überzeugend noch zusammenhängend oder informativ gewesen waren, was den Sport an sich betraf, hatte immer eine eigene majestätische Dringlichkeit mitgeschwungen, ein reizvolles Kribbeln der Katastrophe.
    » Und « , Platts Mund war eine schmale Linie, » das Verdammte daran war natürlich, dass er sich auf dem Wasser für unsterblich hielt. Sohn des Poseidon! Unsinkbar! Und wenn es nach ihm ging, je rauer die Gewässer, desto besser. Er wurde regelrecht Sturm-kirre, verstehst du? Sinkender Luftdruck war wie Lachgas für ihn. Aber an dem speziellen Tag… das Meer war zwar kabbelig, aber es war warm, einer dieser strahlend sonnigen Herbsttage, an denen man nur aufs Wasser rauswill. Andy war genervt, dass er kommen musste, er hatte eine Erkältung und war mit irgendwas Kompliziertem am Computer beschäftigt, aber keiner von uns dachte, dass konkrete Gefahr bestand. Der Plan war, mit ihm rauszufahren, ihn zu beruhigen und vielleicht bei dem Restaurant am Pier vorbeizuschauen, um ihn dazu zu bringen, etwas zu sich zu nehmen. Verstehst du « , er schlug rastlos die Beine übereinander, » Andy und ich waren allein mit ihm, und Daddy war offen gestanden ein bisschen neben der Kappe. Er war schon seit dem Vortag ziemlich aufgekratzt, redete ein bisschen wirr, ziemlich überdreht– Andy hatte Mommy angerufen, weil er Arbeit zu erledigen hatte und sich von der Situation überfordert fühlte, und Mommy hat mich angerufen. Bis ich hochgefahren war und mit der Fähre übergesetzt hatte, war Dad schon jenseits von Gut und Böse. Er faselte über wirbelnde Gischt, Schaumkronen und so weiter– der wilde grüne Atlantik– er war voll drauf. Andy konnte Daddy in diesen Stimmungen nie ertragen, er blieb oben in seinem Zimmer und hatte die Tür abgeschlossen. Ich nehme an, er hatte schon eine Party-Dosis Daddy gehabt, bevor ich ankam.
    Ich weiß, rückblickend scheint es unklug, aber– verstehst du, ich hätte sie allein segeln können. Daddy drehte im Haus völlig durch, und was sollte ich machen, ihn niederringen und einsperren? Und dann hat Andy auch nie ans Essen gedacht, weißt du, der Schrank war leer, nichts im Kühlschrank außer ein paar Tiefkühlpizzas… ein kurzer Turn, ein kleiner Snack am Pier, das klang wie ein guter Plan, weißt du? › Gib ihm was zu essen ‹ , hat Mommy immer gesagt, wenn Daddy anfing, ein bisschen zu fröhlich zu werden. › Sieh zu, dass du irgendwas Essbares in ihn reinstopfst. ‹ Das war immer die erste Verteidigungslinie. Setz ihn an den Tisch– mach

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