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Der Distelfink

Der Distelfink

Titel: Der Distelfink Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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T-Shirt und schwarzem Stringtanga im Flur des Hauses in den Hamptons an mir Zwölfjährigem vorbeigestreift war.
    » Sloppy Jo! Was für einen Arsch sie hatte. Erinnerst du dich, wie sie dort draußen nackt um den Whirlpool stolziert ist? Jedenfalls Cable. Er wurde in den Hamptons dabei erwischt, wie er die Spinde in Daddys Club gefilzt hat, da kann er nicht älter als zwölf oder dreizehn gewesen sein. Das war, nachdem du weggegangen bist, was? «
    » Muss wohl. «
    » Das Gleiche ist in verschiedenen Clubs in der Gegend passiert. Während großer Turniere und dergleichen– er schlich sich in die Umkleidekabine und klaute, was immer er in die Finger bekam. Dann, vielleicht war er mittlerweile auf dem College– oh, verdammt, wo war das noch, nicht Maidstone, aber– egal, Cable hatte einen Sommerjob im Clubheim, half an der Bar aus, chauffierte alte Leutchen nach Hause, die zu betrunken waren, um noch selber zu fahren. Sympathischer Bursche, konnte gut reden– na, du weißt schon. Er brachte die alten Knacker dazu, ihre Kriegsgeschichten oder was auch immer zu erzählen. Gab ihnen Feuer, lachte über ihre Witze. Aber manchmal brachte er sie auch noch bis an die Haustür, und am nächsten Tag vermissten sie ihre Brieftasche. «
    » Nun, ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen « , sagte ich knapp. Der Ton, den Platt angeschlagen hatte, gefiel mir nicht. » Was macht er jetzt überhaupt? «
    » Na ja, kannst du dir ja denken. Immer noch die alte Masche. Offen gestanden trifft er sich hin und wieder mit meiner Schwester, obwohl ich bestimmt wünschte, ich könnte dem ein Ende setzen. Jedenfalls « , fuhr er in leicht verändertem Tonfall fort, » ich will dich nicht aufhalten. Ich kann es kaum erwarten, Kitsey und Toddy zu erzählen, dass ich dich getroffen habe– vor allem Todd. Du hast ihn schwer beeindruckt– er spricht ständig von dir. Er ist nächstes Wochenende in der Stadt, und er will dich bestimmt sehen. «
    V
    Anstatt ein Taxi zu nehmen, ging ich zu Fuß, um den Kopf frei zu bekommen. Es war ein sauberer feuchter Frühlingstag, von Lichtstrahlen durchbohrte Gewitterwolken und Büroangestellte, die sich an den Kreuzungen drängten, aber für mich war der Frühling in New York immer eine vergiftete Zeit, mit den Narzissen, knospenden Bäumen und blutroten Tupfern wehte ein jahreszeitliches Echo des Todes meiner Mutter heran, ein dünner Film aus Halluzination und Horror. Nach der Nachricht über Andy war es, als hätte jemand einen Röntgenschalter umgelegt und alles in ein fotografisches Negativ verwandelt, sodass ich trotz der Narzissen, Menschen, die ihre Hunde ausführten, und Verkehrspolizisten, die an Kreuzungen in ihre Trillerpfeifen bliesen, überall nur Tod sah: Auf den Bürgersteigen wimmelte es von Toten, Kadaver drängten aus den Bussen und eilten von der Arbeit nach Hause, in hundert Jahren würde nichts mehr von ihnen übrig sein außer Zahnfüllungen und Schrittmachern und vielleicht ein paar Fetzen Kleidung und Knochen.
    Es war unvorstellbar. Eine Million Mal hatte ich daran gedacht, Andy anzurufen, und nur, weil es mir peinlich war, nie getan. Es stimmte, dass ich mit niemandem von früher Kontakt hielt, aber hin und wieder lief mir jemand aus unserer alten Schule über den Weg, und unsere alte Klassenkameradin Martina Lichtblau (mit der ich im Jahr zuvor eine kurze, unbefriedigende Affäre hatte, insgesamt drei Mal Vögeln auf einem ausklappbaren Sofa)– Martina Lichtblau hatte von ihm gesprochen, Andy ist jetzt in Massachusetts, habt ihr noch Kontakt, o ja, Andy, nach wie vor ein Mega-Nerd wie immer, nur dass er es jetzt so betont, dass es beinahe irgendwie retro und cool ist? Brillengläser dick wie Colaflaschen? Orangefarbene Cordhose und eine Frisur wie der Helm von Darth Vader?
    Wow, Andy, dachte ich an jenem Abend, schüttelte den Kopf und griff über Martinas nackte Schulter nach einer ihrer Zigaretten. Damals hatte ich überlegt, wie schön es wäre, ihn zu treffen– schade, dass er nicht in New York war–, vielleicht würde ich ihn, wenn er in den Semesterferien zu Hause war, mal anrufen.
    Aber dazu kam es einfach nie. Wegen meines Verfolgungswahns war ich nicht bei Facebook und guckte nur selten Nachrichten, trotzdem konnte ich mir nicht erklären, wieso ich nichts davon mitbekommen hatte– bis auf dass ich in den vergangenen Wochen aus lauter Sorge um den Laden kaum an etwas anderes gedacht hatte. Nicht, dass wir finanzielle Probleme gehabt hätten– wir hatten das Geld

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